Donnerstag, Oktober 31

Die französische Autorin Emmanuelle Guattari ist als Tochter eines Psychiaters in einer Klinik unter Kranken aufgewachsen. Das hat ihren Blick geschärft für das Unkonventionelle in der Welt.

Emmanuelle Guattari, geboren 1964 in Blois, wuchs in der psychiatrischen Klinik La Borde im Dorf Cour-Cheverny im Loire-Tal auf. Ihre Eltern haben dort gearbeitet. Der Vater, der Psychoanalytiker Félix Guattari (der einige seiner Schriften, darunter die Freud-Kritik «Anti-Ödipus», mit dem Philosophen Gilles Deleuze verfasst hat), war hier seit den 1950er Jahren tätig.

Die Klinik ging aus der sogenannten antipsychiatrischen Bewegung hervor, sie ist ein Patientenkollektiv. Die Kranken sind grundsätzlich frei, haben sinnvolle Beschäftigungen und gemeinschaftsfördernde Orte. Es wird viel gesprochen, die Sprache wird ernst genommen.

Kindheit unter psychisch Kranken

Die Kinder des Personals wachsen unter unkonventionellen und trotzdem normalen Bedingungen auf. 2021 hat Emmanuelle Guattari in «Die Kinder von La Borde» darüber geschrieben. «Natürlich wussten wir, dass die Bewohner Verrückte waren, aber La Borde war vor allem unser Zuhause.»

In «Himmel über der Loire» ist Emmanuelle zum Teenager geworden. Die Welt ausserhalb spielt eine grössere Rolle. Alles scheint irgendwie provisorisch. Sie formt rätselhafte Sätze, die eigentlich keine sind, sondern eher Ausrufe, Seufzer. Manchmal wirft sie den Lesern einfach nur Wörter zu, Wörter wie Vergessen, Stille, Schönheit, Hässlichkeit, Schrecken. Eine wahrhaft unfassbare Schilderung, selbst die Zeit scheint regellos.

Ihr Aufwachsen unter psychisch Kranken hat einen entscheidenden Einfluss auf ihre ganze Wahrnehmungsweise. Sie hat diesen besonderen Blick, der nun in den 1980er Jahren, als sie sich in New York aufhält, vom touristischen Blick abrückt und dadurch eben auch «ver-rückt» ist. Das wilde Denken, das sie aus der Klinik und von daheim gewohnt war, der Zusammenhang von Wesen, Ding und Phänomen, kommt ihr hier zugute.

In «New York, Little Poland» veröffentlicht sie nun ihre Aufzeichnungen aus der Metropole. Hier bewährt sich ihre geübte Sicht auf die Aussenseiter: eine Obdachlose, einen polnischen Metzger, einen massigen tänzelnden Riesen, auch Leute, die den Wahnsinn in sich tragen. Oft genug verirrt sie sich in gefährliche Gegenden, ohne es zu ahnen. Manchmal ist Naivität ein Schutz, und hilfloses Lächeln hilft ihr weiter.

Flüchtige Momente

Stilistisch bevorzugt sie kurze, klare Sätze und geht gleich in medias res. Sie schreibt, wie Impressionisten malen. Lauter Tupfer. Im Gegensatz zu impressionistischen Dichtern wie Herman Bang oder Keyserling entsteht keine erzählte Geschichte. Das Leben besteht aus Fragmenten, vielleicht sogar aus zahllosen Anfängen.

Das funktioniert, weil wir nie den Eindruck haben, es seien willkürliche, gar belanglose Ereignisse und Personen. Es sind Erinnerungstupfer aus Kindheit und Jugend, aus der Gegend des magischen Orts La Borde, flüchtige Momente, die durch die Erwähnung nicht mehr flüchten können. Oder Tupfer eben aus New York und «Klein-Polen» gegenüber von Manhattan.

Eines Tages besucht der Vater Félix die Columbia-Universität, er ist die personifizierte Verbindung zwischen dem Dorf und der Weltstadt. Emmanuelle Guattaris Augenblicke ergeben im Ganzen das zusammenhängende Porträt eines Ortes, der letztlich so magisch ist wie La Borde: bestürzend, befremdend und ausweglos, und doch voll Bewegung, Witz und Lebensklugheit.

Emmanuelle Guattari: New York, Little Poland. Aus dem Französischen von Françoise Hynek und Arabel Summent. Verlag Turia + Kant, Wien 2024. 92 S., Fr. 20.90.

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