Samstag, April 19

In der Stadt Agadez in Niger ist eine 66-jährige Schweizer Staatsbürgerin entführt worden. Bis jetzt fehlt jede Spur von ihr. Nun wird klar: Claudia A. hielt sich nicht zufällig in einem Risikogebiet auf.

Die Entführer kamen am vergangenen Samstagabend. Gegen 22 Uhr verschleppten sie eine Schweizerin aus ihrem Haus in der Stadt Agadez in Zentralniger.

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Wer ist die entführte Frau, die laut dem Regionalgouverneur von Agadez «Claudia» heisst und seit Jahrzehnten in der Stadt mitten in der Wüste lebt? Laut Informationen der NZZ handelt es sich um Claudia A. – Bundesrat Ignazio Cassis hatte sie 2022 im Rahmen eines Staatsbesuchs in Niger getroffen.

Hat sich Claudia A. leichtsinnig in einer Region aufgehalten, in der «jeder Europäer ein Preisschild auf der Stirn» trägt, wie sich der Sahel-Experte Ulf Laessing im Interview mit SRF ausdrückte?

Recherchen der NZZ zeigen: Claudia A. ist keine Schweizerin, die sich zufällig in einem Risikogebiet aufhält. Sie spricht fliessend Französisch, Arabisch und auch die Touareg-Sprache Tamaschek. Neben der Schweizer Staatsbürgerschaft besitzt sie die nigrische und algerische. Die 66-Jährige ist eine Unternehmerin, die seit über dreissig Jahren in der Region Nord- und Westafrika lebt und arbeitet. Ihr Gatte ist ein Nigrer aus der Volksgruppe der Touareg, und ihr erwachsener Sohn aus erster Ehe mit einem Algerier wohnt in der nigrischen Hauptstadt Niamey. Mit einer Schweizer Freundin hat Claudia A. in Agadez eine Kooperative gegründet, die einheimische Unternehmerinnen bei der Herstellung und dem Verkauf von Lederwaren unterstützt.

«Für uns ist sie eine Nigrerin wie wir selbst»

Claudia A. war sich des Risikos sehr bewusst, wie sie vor drei Jahren im Gespräch mit dem Magazin des Reiseveranstalters Globetrotter sagte. Obwohl sie sich ausserhalb der Stadt Agadez nur mit Eskorte bewegen könne, fühle sie sich nicht eingeschränkt und könne sich gut mit der Situation abfinden.

Laut Mano Aghali, der in Agadez die lokale Hilfsorganisation HED Tamat leitet, sind viele Menschen in Agadez empört über die Entführung von Claudia A. Zumal sie wegen ihres langjährigen Engagements für die Bevölkerung und wegen ihres Alters grössten Respekt geniesse: «Für uns ist sie eine Nigrerin wie wir selbst.»

Am Tag nach der Entführung veröffentlichte A.s nigrischer Ehemann eine Audiobotschaft in der Sprache Tamaschek, in der er um Hilfe bei der Suche nach seiner Frau bat. Beigefügt war ein Foto ihres nigrischen Personalausweises. Trotzdem ist über die Täter und A.s Aufenthaltsort offenbar weiterhin nichts bekannt. Es steht aber zu vermuten, dass Mitglieder einer der islamistischen Terrorgruppen die Tat verübt haben, die in Niger und den Nachbarstaaten aktiv sind.

Niger kämpft wie seine Nachbarländer Mali und Burkina Faso gegen Gruppen, die mit den Terrororganisationen al-Kaida und dem Islamischen Staat in Verbindung stehen. Vor allem durch die Entführung westlicher Geiseln versuchen zwei Gruppierungen, durch Erpressung von Lösegeldern Profit zu schlagen: die sogenannte Gruppe der Unterstützer des Islams und der Muslime (JNIM, ein Al-Kaida-Ableger) und der Islamische Staat in der grösseren Sahara (ISGS).

Das dürfte auch die Motivation hinter der Entführung einer 72-jährigen Österreicherin gewesen sein, die seit dem 11. Januar vermisst wird. Eva G. hatte ebenfalls schon seit Jahrzehnten in Agadez gelebt und war gut in die Gemeinschaft integriert.

Auch Claudia A. hielt an Agadez fest: «Ich bin nicht nach Afrika gekommen, um in einer staubigen Stadt zu sitzen, sondern um in der Wüste zu leben», sagte sie zum Magazin des Globetrotters. Deshalb fahre sie auch ab und zu hinaus in die Wüste, um einige Nächte in einem Camp zu verbringen.

Claudia A. ist als Kind von Schweizer Eltern in Libanon geboren. Vor der Rückkehr in die Schweiz hat sie als 10-Jährige mit der Familie Jordanien und Syrien bereist. Damals habe sie sich in die Wüste verliebt, erzählte sie im erwähnten Interview.

Später habe sie mit ihrem ersten Ehemann, der ebenfalls ein Touareg war, in Algerien 1994 ein Reiseunternehmen gegründet. Bis zu dessen plötzlichem Tod leitete das Ehepaar zusammen eine Lodge in der Wüste und bot Wüstentouren an. Nach der Schliessung der Grenzen durch die algerischen Behörden 2013 kam der Tourismus zum Erliegen, und Claudia A.s Unternehmen ging in Konkurs. Vor fünfzehn Jahren hat sie Algerien verlassen und sich in Niger niedergelassen.

Entführungen als Einnahmequellen

Aghali von der Organisation HED Tamat hält es für wenig wahrscheinlich, dass Claudia A. und vor ihr die Österreicherin von einer rein kriminellen Gruppe entführt worden seien. «In Agadez gibt es das nicht.» Aber er ergänzt: «Im Moment jedenfalls.» In anderen Regionen Nigers seien Entführungen durch kriminelle, oft internationale Banden «sehr häufig» geworden, beispielsweise in der Region Konni an der Grenze zu Nigeria. Im Nachbarland sind Entführungen durch kriminelle Banden ein ernstes Problem, Tausende Menschen wurden in den vergangenen Jahren Opfer.

Laut Aghali hat sich die landesweite Sicherheitslage in Niger in den vergangenen Monaten weiter verschlechtert, obwohl die Militärs bei ihrem Putsch im Juli 2023 nicht zuletzt mit dem Versprechen angetreten seien, den Terrorismus effektiver zu bekämpfen als die bis dahin zivile Regierung. So sei die Hauptstadt Niamey mittlerweile eingekesselt von Terrorgruppen. Schon seit mindestens zwei Jahren ist die Sicherheitslage ausserhalb der Hauptstadt so prekär, dass Weisse die Stadtgrenze nur mit einer Militäreskorte passieren dürfen – etwa für den Weg nach Agadez. Entführungen mit Lösegeldforderungen betreffen allerdings nicht nur Ausländer, sondern auch Einheimische.

Seit dem Militärputsch im Juli 2023 hat sich die tiefe Armut der Bevölkerung in Niger noch verschlimmert. Die Preise sind weiter gestiegen, die Banken haben häufig Liquiditätsprobleme. Zu den Gründen gehören die Wirtschaftssanktionen, mit denen die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft Ecowas auf den Staatsstreich reagierte.

Mittlerweile sind Niger, Mali und Burkina Faso, die alle drei von Militärregierungen geführt werden, aus der Ecowas ausgetreten und haben ihre eigene Gemeinschaft gegründet, die Allianz der Sahelstaaten (AES). Da alle drei Binnenstaaten sind, bleiben Import und Export ein Problem, mit sehr spürbaren Folgen für Wirtschaft und Bevölkerung in allen drei Ländern.

Das Schweizer Aussendepartement EDA hat am Montag die Entführung einer Schweizerin in Agadez bestätigt, ohne den Namen Claudia A. zu nennen. Die Botschaft in der Hauptstadt Niamey stehe mit den lokalen Behörden in Kontakt. Weitere Angaben über mögliche Hintergründe der Entführung machte das EDA nicht.

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