Sonntag, November 24

Die FPÖ könnte im Herbst erstmals überhaupt stärkste Kraft werden und Österreich an den Rand der Unregierbarkeit bringen. Dennoch gehen die Massen nicht auf die Strasse wie in Deutschland. Warum?

Aus Österreich schaut man immer mit Interesse nach Deutschland, und so schwappen auch die politischen Debatten regelmässig über die Grenze. Derzeit zeigt sich das an den Versuchen, die deutschen Massendemonstrationen nach Österreich zu importieren – immerhin hat soeben ein Wahljahr begonnen. Letzte Woche hatte die rechtspopulistische FPÖ die Bauern zur «Fahrt nach Wien» aufgerufen, in der Hoffnung auf Kolonnen von Traktoren, die wie in Berlin die Hauptstadt lahmlegen sollten. Die Aktion wurde allerdings zum Rohrkrepierer. Elf Traktoren wurden auf dem Ballhausplatz vor dem Kanzleramt gezählt, einige Dutzend Demonstranten und viele Journalisten.

Nun versucht die österreichische Linke auch, die Proteste gegen Rechtsextremismus zu kopieren. Für Freitagabend hat ein Bündnis verschiedener Nichtregierungsorganisationen zu einer Kundgebung unter dem Motto «Demokratie verteidigen» vor dem Parlament aufgerufen, die Polizei rechnet mit einigen tausend Teilnehmern. Wie beim Protest der Bauern dürfte der Zulauf aber in keinem Verhältnis stehen zu den Massen, die am Wochenende in Deutschland auf die Strassen gegangen sind.

Die Frage des Umgangs mit der FPÖ dominiert die Innenpolitik

Auslöser für die dortigen Demonstrationen war das Bekanntwerden eines Treffens von Rechtsextremisten in Potsdam, an dem auch Vertreter der AfD teilnahmen. Hauptredner war der junge Österreicher Martin Sellner, ein einflussreicher Vordenker der sogenannten Neuen Rechten. Während sich die AfD nach der Enthüllung von ihm distanzierte, pflegt die FPÖ seit der Corona-Pandemie den Kontakt zu Sellner und seinen Gesinnungsgenossen wieder recht offen. Die Aussicht der Partei auf eine Machtübernahme ist zudem konkreter als diejenige der ideologisch verwandten AfD: Seit über einem Jahr führen die Freiheitlichen mit rund 30 Prozent Zustimmung alle Umfragen klar an, und spätestens im Herbst wird gewählt.

So stehen die österreichischen Parteien in der Wählergunst

Wahlabsicht der Befragten in Prozent

1

Kurz wird ÖVP-Chef (14. Mai 2017)

2

Parlamentswahl (15. Oktober 2017)

3

Ibiza-Skandal führt zu vorzeitiger Neuwahl (29. September 2019)

4

Rücktritt Kurz (9. Oktober 2021)

Dass sich in Österreich dennoch nicht ähnlicher Widerstand manifestiert wie in Deutschland, hat verschiedene Gründe. Die erst viel spätere und weniger radikale Auseinandersetzung mit der eigenen Nazi-Vergangenheit spielt eine Rolle, das «nie wieder» ist weniger tief in der Gesellschaft verankert.

Vor allem aber hat sich das Land über die Jahrzehnte an die FPÖ gewöhnt, deren Vorgängerpartei bereits 1949 als Sammelbecken für einstige Nationalsozialisten gegründet worden war. Seit ihrem Aufstieg zu einer massgeblichen Kraft unter Jörg Haider regierten die Freiheitlichen auch immer wieder mit, auf Bundesebene letztmals unter Kanzler Sebastian Kurz bis zum Ibiza-Skandal. Die «Brandmauer», die in Deutschland gegenüber der AfD besteht, existiert gegenüber der FPÖ längst nicht mehr.

Die Frage des Umgangs mit den Rechtspopulisten dominiert trotzdem seit dreissig Jahren die Innenpolitik. Derzeit stellt sie sich besonders, weil die FPÖ erstmals überhaupt stärkste Kraft werden könnte und die einstigen Grossparteien ÖVP und SPÖ laut Umfragen so schwach sind, dass sie möglicherweise nur mit einem dritten Partner auf eine Mehrheit kommen können. Ein solches Bündnis wäre eine Premiere auf Bundesebene, vermutlich instabil und kaum reformfähig.

Ein Zusammengehen mit der FPÖ lehnen aber alle Parteien ab – unmissverständlich SPÖ, Grüne und Neos, weniger eindeutig die ÖVP. Die Konservativen führten bis vor fünf Jahren mit den Freiheitlichen eine Koalition an, der in der Partei viele nachtrauern. Mit dem aufkommenden Wahlkampf hat sich der Ton zwischen den beiden Kräften rechts der Mitte dennoch verschärft. Bundeskanzler Karl Nehammer attackierte den FPÖ-Chef Herbert Kickl vor zehn Tagen in einem ORF-Interview heftig: Er nannte ihn ein Sicherheitsrisiko, er sei nicht in der Lage, Verantwortung zu übernehmen, lasse fachliche Kompetenz vermissen und täusche die Menschen. Mit Blick auf Kickls Zeit als Innenminister erklärte Nehammer, der ihm in diesem Amt nachfolgte: «Er ist schwach in der Umsetzung. Er kann es nicht.»

Andere ÖVP-Vertreter äusserten sich ähnlich. Ein Abgeordneter erklärte, die FPÖ sei eine im Wesen korrupte Partei, und der ÖVP-Spitzenkandidat für die EU-Wahl nannte sie eine «Führerpartei», die durch Kickl bewusst radikalisiert worden sei. Die FPÖ sei der verlängerte Arm Putins und wolle die EU zerstören.

Als logische Konsequenz lehnt Nehammer ein neuerliches Bündnis mit der FPÖ nach der Wahl ab. Allerdings betont der ÖVP-Chef stets, eine Zusammenarbeit mit der «Kickl-FPÖ» sei ausgeschlossen. Würden die Freiheitlichen indes einen gemässigteren Politiker an die Spitze wählen, etwa den ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Norbert Hofer, wäre die Situation anders zu beurteilen.

Haiders Rückzug führte zur Spaltung der FPÖ

Mit dem Ziel einer Regierungsbeteiligung hatte die FPÖ ein solches Vorgehen schon einmal gewählt: Als Wolfgang Schüssel im Jahr 2000 die erste schwarz-blaue Koalition auf Bundesebene bildete, zog Jörg Haider sich zur Besänftigung der europäischen Partner in die Kärntner Landespolitik zurück. Die gemässigte Susanne Riess-Passer wurde FPÖ-Chefin und Vizekanzlerin. Für die Partei bewährte sich das Modell indes nicht: Querschüsse Haiders führten letztlich zu einer Spaltung und einer verheerenden Wahlniederlage der FPÖ.

Kickl erlebte dies an der Seite Haiders mit und wird seine Lehren daraus gezogen haben. Es ist schwer vorstellbar, dass er sich in die zweite Reihe zurückzieht oder von der Partei dazu gedrängt wird.

Die Frage ist deshalb eher, ob die ÖVP nach der Wahl bei ihrer Ablehnung bleibt – was mit Blick auf die Bundesländer immer wieder angezweifelt wird. In Oberösterreich regieren die Konservativen schon seit acht Jahren mit der FPÖ, und im letzten Jahr gingen sie entsprechende Bündnisse auch in Salzburg und Niederösterreich ein, obwohl sie dies im Wahlkampf noch strikt abgelehnt hatten.

In allen drei Bundesländern ist die FPÖ aber nur Juniorpartnerin, die Landeshauptleute stellen die Konservativen. Für eine solche Ausgangslage müsste die ÖVP die Freiheitlichen bis zum Herbst noch überholen. Darauf deutet derzeit wenig hin, die Partei hat die Hoffnung jedoch noch nicht aufgegeben. Schub erhofft sie sich von einem grossen «Österreichplan», den Nehammer diesen Freitag zum Wahlkampfauftakt in einer Rede präsentieren wird.

Auszüge daraus sind schon publik geworden, und am meisten Reaktionen löst bis jetzt aus, dass die ÖVP bis 2030 das Gendern in der Verwaltung und an Bildungseinrichtungen untersagen will. Vorbild ist auch für diese Idee Deutschland, konkret ein Vorstoss des bayrischen Ministerpräsidenten Markus Söder. Ziel ist in beiden Fällen, den Rechtspopulisten Wähler streitig zu machen.

Exit mobile version