Sonntag, Oktober 6

Japanische Tugenden wie Respekt und Ernsthaftigkeit schlugen damals voll durch. Die Fans sammelten sogar Müll ein, um die Stadien sauber zurückzulassen.

Wenn man die Olympischen Spiele als Wettkampf betrachtet, was ja nicht ganz abwegig ist, steht Paris vor einer Herausforderung. Dass die Gastgeberstädte alles tun, um sich der Welt im besten Licht zu präsentieren, ist schon lange Teil des Spektakels. 1960 liess Rom die Ringkämpfe in der gewaltigen Maxentius-Basilika stattfinden. Athen konnte den Athleten im Jahr 2004 Arenen bieten, die schon in der Antike für Wettkämpfe genutzt wurden. Mit Austragungsorten im gerade renovierten Grand Palais für Florettfechten, auf dem Schlossgelände von Versailles für Reiten und auf dem Champ de Mars vor dem Eiffelturm für Judo hat Paris auch einiges vorzuweisen; aber es kommt nicht nur auf imposante Gebäude und Plätze an. Ob das Fest gelingt, hängt ganz wesentlich von denen ab, die es ausrichten.

Die vorigen Spiele fand in Tokio statt, und dieses ist eine grosse Nummer. Hier gibt es zwar den Tokyo Tower, der drei Meter höher ist als sein Modell, der Eiffelturm, aber das ist belanglos. Tokio ist eine Stadt, die funktioniert, und das hat die meisten Besucher beeindruckt. Verspätungen der U-Bahn werden in Minuten pro Jahr gemessen. Rote Ampeln werden beachtet. Im Fundbüro kann man hoffen, sein Portemonnaie mit dem vollen Betrag, der darin war, als man es verlor, zurückzubekommen. Strassen und Bahnsteige sind sauber.

Verirren kann man sich in der Riesenstadt nicht, denn wenn man den Weg verloren hat, wird einen irgendjemand so weit begleiten, dass man ihn wiederfindet. Die Kriminalität, ganz gleich nach welchem internationalen Index, ist weniger als halb so hoch wie in der französischen Hauptstadt. Und da haben wir noch gar nicht erwähnt, dass es zum Ingrimm der französischen Gastronomie in Tokio doppelt so viele Michelin-Sterne-Restaurants gibt wie in Paris und man auch sonst hervorragend bedient wird.

Unmittelbar relevant für grosse Sportveranstaltungen ist, dass japanische Fans sich einen Sport daraus machen, leere Flaschen und anderen Müll einzusammeln, um die Stadien sauber und ordentlich zurückzulassen, denn sie wissen, was sich gehört.

Einüben von Gemeinschaft

Was sich gehört? Ja, klingt etwas altmodisch, aber das trägt entscheidend zur Lebensqualität bei. Und wer überwacht das? Ist Japan ein Polizeistaat? Schon der Gedanke führt in die falsche Richtung. Die Zahl der Polizisten je 100 000 Einwohner ist in Tokio deutlich niedriger als in Paris oder jeder anderen europäischen Grossstadt. Daran kann es nicht liegen. Dass die Stadt sicher ist und alles in geordneten Bahnen verläuft, man wartet, bis man an der Reihe ist, sich nicht anrempelt, all das und viele andere, nur scheinbar unbedeutende Kleinigkeiten, die das Leben im Gedränge der Stadt erträglich machen, sind im allgemeinen Interesse.

In Japan wird sehr früh damit begonnen einzuüben, was sich gehört. Dass schon Erstklässler gemeinsam ihr Klassenzimmer sauber machen, ist eine einfache Methode, ihnen ein Verständnis dafür zu vermitteln, was Gemeinwohl ist, auch wenn es nie so genannt wird. Ist das Zwang? Wenn man das so nennen will, ist jede Form der Erziehung Zwang, gleichviel, ob man den Kindern sagt, sie sollen «sich selbst verwirklichen» oder mit allen anderen zusammen den Fussboden wischen und die Stühle richtig hinstellen. Lebensstil ist zutreffender.

Disziplin ohne Zwang hört sich etwas widersprüchlich an, also nennt man es besser Anpassung. Nicht, dass es in Japan keine Unangepassten gäbe. Beispiele im negativen wie im positiven Sinn gibt es natürlich, aber auf Konformität in der Rücksichtnahme auf andere wird viel Wert gelegt. Die Schule hat einen allgemein anerkannten Auftrag der moralischen Erziehung, der einerseits ausserhalb des Unterrichts realisiert wird, etwa durch die frühe Übernahme von Verantwortung für Gemeingut im Kindergarten oder an der Schule, das Singen des Schullieds, die gemeinsame Mittagspause, Ausflüge und andere Gemeinschaftsaktivitäten.

Anderseits gibt es im Lehrplan auch Moralunterricht. Während des Zweiten Weltkriegs kam er als obrigkeitsstaatliches Instrument der Indoktrinierung in Verruf, aber danach wurde er auf eine demokratische Gesellschaftsordnung zugeschnitten und spielt für die Sozialisation noch immer eine wichtige Rolle. Die über 120 Seiten umfassenden Richtlinien des Erziehungsministeriums sind ausserordentlich detailliert. Auf Tugenden der konfuzianischen Tradition zurückgreifend, liegen die Schwerpunkte auf Höflichkeit, Ernsthaftigkeit, Solidarität, Harmonie, Respekt vor dem Gemeinsinn, Pflichtbewusstsein, Heimatliebe, Tradition und Kultur und heutzutage Respekt vor Natur und Umwelt.

Im Laufe der Schuljahre verbindet sich (idealerweise) alles zu einem gepflegten Verhalten, zusammengehalten durch die Betonung der guten Form. Im dualistischen Weltbild der europäischen Kultur ist Form nur Etikette, also Oberfläche; worauf es eigentlich ankommt, ist der Inhalt. Nicht so in Japan, da ist die gute Form vielfach der Inhalt. Wird Etikette in westlichen Gesellschaften oft mit Einschränkung der freien Entfaltung des selbstverantwortlichen Individuums assoziiert, ist sie in Japan eher die Voraussetzung dafür, sich frei bewegen zu können. Denn wenn man die Regeln des korrekten Verhaltens ignoriert, eckt man an und beschämt sich und andere.

Form ist alles

In der Schule lernen Kinder, wie man sich benimmt, aber damit ist es nicht getan. Mit dem Eintritt ins Berufsleben sind in vielen Firmen Schulungskurse verbunden, die sich mit Kleidung, Frisur, Körperhaltung, Sprache, insbesondere Gruss- und Anredeformen sowie Telefongesprächen und E-Mail-Verkehr befassen. Den Verhaltenskodex müssen alle Beschäftigten kennen, da sie das Unternehmen nach aussen repräsentieren, ganz gleich, welche Arbeit sie verrichten. Benimmbücher erscheinen in grossen Auflagen und haben ihre eigenen Websites mit endlosen Tipps und Diskussionen. Form ist alles. Sie ermöglicht den gesitteten Umgang miteinander, auch und gerade in der Grossstadt.

Die Grossstadt entfremdet die Menschen von der Natur und voneinander. Das urbane Leben bringt Anonymität, Ichbezogenheit, wenn nicht Rücksichtslosigkeit mit sich. «Die tiefsten Probleme des modernen Lebens quellen aus dem Anspruch des Individuums, die Selbständigkeit und Eigenart seines Daseins gegen die Übermächte der Gesellschaft, des geschichtlich Ererbten, der äusserlichen Kultur und Technik des Lebens zu bewahren.» Das schrieb in seinem Traktat über «die Grossstädte und das Geistesleben» schon vor 120 Jahren der Soziologe Georg Simmel.

In der Stadt müssen wir uns wegen dieses individualistischen Anspruchs vor den Mitmenschen, die wir nicht kennen, mehr fürchten als vor Naturgewalten. Eine Naturgewalt macht jedoch vor den Stadtmauern nicht halt, das Erdbeben. In Tokio wie überall in Japan ist es subkutan immer gegenwärtig, und wenn es zuschlägt, das weiss jeder, sind die Überlebenschancen besser, wenn man zusammenhält und aufeinander Rücksicht nimmt. Gemeinsinn, Verantwortungsbewusstsein, Disziplin, Zurückhaltung und Ordnung sind von grösster Wichtigkeit.

Anzunehmen, dass neben kulturellen Traditionen auch das Verhältnis zur Natur Verhaltensmuster prägt, ist deshalb nicht weit hergeholt. In beiden unterscheiden sich Tokio und Paris, die Olympischen Spiele verbinden sie. In Paris waren sie vor hundert Jahren schon einmal, in Tokio 1964 zum ersten Mal in einer nichtwestlichen Stadt. Der Wettkampf um die Zufriedenheit der Besucher und der Sportler läuft.

Florian Coulmas ist Senior-Professor am In-East-Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Duisburg-Essen.

Exit mobile version