Zeichnungen von der Qualität von Gemälden: Robert Longos Ausstellung in der Wiener Albertina raubt einem den Atem.
Ihre Augen und ihr Mund sind weit aufgerissen, als hätte sie etwas Schreckliches gesehen. «Statue der Marianne» betitelt Robert Longo das Werk lapidar. Man erfährt keine Details über die Figur oder das Ereignis. Aber etwas reizte den amerikanischen Künstler offenbar, diesen Kopf einer Skulptur in eine seiner gigantischen, hyperrealistischen Kohlezeichnungen zu transformieren.
Gleich gegenüber diesem Werk blickt man auf ein 1,5 mal 3 Meter grosses Einschussloch in einer Glasscheibe. Auch in dieser Zeichnung sind die Hintergründe nebensächlich. Bei beiden Arbeiten ist es die bedrohliche Stimmung, die diesen Knalleffekt gleich zu Beginn von Robert Longos grosser Schau in der Wiener Albertina erzeugt.
Fast 50 Werke sind ausgestellt, darunter seine frühe «Men in the Cities»-Serie: Mit den Menschen in merkwürdigen, an Tanz oder vielleicht auch Stürze erinnernden Posen wurde Longo in den achtziger Jahren schlagartig bekannt. Oder seine «Bodyhammer»-Serie von Pistolen aus den frühen neunziger Jahren. Man blickt direkt in die Mündung. Er habe sich vom FBI über die gängigsten Schusswaffen informieren lassen, erklärt Longo dazu in einem Videointerview. Und fügt an: «In den USA gibt es mehr Waffen als Menschen.»
Radikales Close-up
Schon in diesen frühen Werken zeigen sich bis heute zentrale Merkmale von Longos Kunst: Der Künstler wählt für seine Werke Kohlestifte – ein Material, das man eher mit Entwurfszeichnungen verbindet. Longo allerdings setzt damit sehr oft ein einziges Motiv zentral in Szene. Und dies stets in übergrossem Format. Das alles ist für das Medium Zeichnung mehr als ungewöhnlich. Seine Arbeiten sind Zeichnungen mit dem Vollendungsgrad von Gemälden.
Der 1939 in Brooklyn geborene Künstler gilt als ein Wiederentdecker der Ikonografie des Bildes nach der bildfernen Zeit der Konzeptkunst. Ausgebildet wurde er als Bildhauer. Bald fühlte er sich allerdings der Picture Generation zugehörig, einer Generation von Kunstschaffenden, die wie Cindy Sherman oder David Salle Bilder der Massenmedien aufgriffen und sich künstlerisch aneigneten.
Longo zeichnet also Bilder von Bildern. Die Auswahl dafür sei ein Balanceakt zwischen Sujets, die zugleich höchst persönlich und auch sozial relevant seien, erklärt Longo. Kaum ein Künstler hat so viele Interviews mit ausführlichen Erklärungen zu seinem Werk gegeben wie er, weswegen man ihn am besten selbst zu Wort kommen lässt.
Seine Wellen etwa nennt er «psychologische Profile», die Formen seien von dem beeinflusst, was tief darunter liege, «was nach Psychoanalyse klingt». Zeichnungen seien «epische Momente». Nichts habe etwas Alltägliches, das interessiere ihn nicht. «Ich bin an Höhepunkten interessiert.» Seine Bildauswahl sei eine «Reflexion der Welt, in der wir leben».
Mit seinen Riesenzeichnungen gibt Longo den flüchtigen Bildern der Medienwelt eine unerwartete Langlebigkeit. Die Motivwahl ist vor allem plakativ: Kampfflugzeuge, dargestellt wie Porträts; ein Tiger, dessen Kopf das gesamte Format ausfüllt; die Augen einer verschleierten Frau, die uns eindringlich anschaut. Alles ist radikales Close-up. Sogar eine rote Rose ist Sujet genug für Longo. Und es ist das einzige farbige Werk in der Wiener Schau, Longos Bilderkosmos ist sonst durchwegs schwarz-weiss. Er habe seiner Frau Rosen schenken wollen, erklärt der Künstler diese Motivwahl.
Robert Longo: «Untitled (White Tiger)», 2011, Kohle auf Papier; Untitled (Herzeleide, Barbara’s Eyes)», 2012, Kohle auf Papier.
Wellen, Rosen, Bomben: Das seien Bilder von Dingen, die «im Moment ihres Passierens sind»: Eine Welle bricht, eine Rose blüht, eine Bombe explodiert. Es passiert immer wieder und immer genau dann, wenn man das Bild anschaut. Der deutsche Kunsthistoriker Max Imdahl beschrieb solche im Moment der Bildbetrachtung stattfindende Aktualität einmal als «aktuelle Tatsache» entgegen der «sachlichen Tatsache» des Materials.
Effektvolle Grösse
Die Fotovorlagen lässt Longo von seinem Studio-Team oft monatelang vorbereiten. Die Bilder werden abstrahiert, um Irrelevantes wegzulassen und das Wichtige herauszuarbeiten. Das Licht wird zu radikalem Hell-Dunkel dramatisiert. Einer der Höhepunkte der Wiener Ausstellung ist eine Übersetzung eines mehrfarbigen Ölbildes von Jackson Pollock in eine schwarz-weisse Kohlezeichnung. Vorab habe Longo das Gemälde «wie eine Mörderszene analysiert». Als wäre jeder Farbtropfen ein Blutspritzer.
Aber warum müssen all diese Bilder so riesig sein? Durch ihre Grösse erzeugen sie eine enorme Präsenz. Auf dem Triptychon «Floss auf dem Meer» mit dem kleinen Boot voller Flüchtlinge inmitten eines wogenden Meeres hat man den Eindruck, immer tiefer in das Wasser einzutauchen. Man wird Teil der Szene. Und das ist ergreifend. Genau das will Longo erreichen: «Ich mache diese Bilder, weil ich sie sehen will. Und ich will sie in dieser Grösse sehen. Die Grösse ist wichtig, weil es einen Moment kreiert, der dir den Atem raubt.»
Am Ende der Ausstellung sieht man riesige Eisberge, Haie und Wellen. Das klingt nach Naturnähe, ist aber ähnlich bedrohlich wie die Bilder mit den Mündungen von Pistolen. Diese Darstellungen entsprächen unserer Welt, sagt Robert Longo: «Ich meine, wir, die Menschheit, könnten uns selbst zerstören.»
«Robert Longo», Albertina, Wien, bis 26. Januar 2025.