Montag, September 30

Über tausend Autobesitzer hatten sich an dem Versuchsbetrieb beteiligt. Dieser geht auf ein Brainstorming in einem Pfadilager zurück.

Der Weg zur Läuterung führt über den Verzicht, möge er auch nur temporär sein. Was in der Religion, siehe Fastenzeit und Ramadan, eine jahrhundertealte Tradition ist, hat in der säkularen Neuzeit seine Entsprechung in Trends wie dem «dry January» oder dem «Veganuary» gefunden, dem alkoholfreien und fleischlosen Start in ein neues Jahr.

Im Zeichen des Klimawandels hat die Stadt Winterthur nun eine weitere Etappe der Entsagung getestet: den autofreien Monat. Die Idee geht zurück auf eine Brainstorming-Session in einem Pfadilager.

Im Rahmen eines Versuchs, der in diesen Tagen zu Ende geht, waren Winterthurer Autobesitzer dazu aufgerufen worden, ihr Gefährt während 31 Tagen stehen zu lassen. Insgesamt 1005 Personen mit 563 Autos machten mit. Über 100 Tonnen CO2 seien mit der Übung eingespart worden, hat die Stadtverwaltung diese Woche mitgeteilt.

Winterthur stellt den Versuch als Erfolg dar, als wichtigen Zwischenschritt auf dem Weg zur Erreichung der Klimaziele. Mehr als 1 Prozent der Winterthurer Autos seien in der Garage geblieben. Einige Teilnehmer hätten sich sogar dazu entschieden, künftig ganz auf ihr Auto zu verzichten.

Gratis-GA, Gratis-Velo

Ganz auf die Mobilität verzichten mussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht. Sie erhielten während ihres autolosen Monats ein Generalabonnement für den öffentlichen Verkehr und auf Wunsch auch ein Miet-E-Bike und eine Mitgliedschaft bei einem Car-Sharing-Unternehmen.

Dieses Paket war für die Teilnehmer kostenlos. Normalerweise bezahlt ein Paar nur schon für ein Doppel-GA pro Monat rund 570 Franken.

Doch ist es wirklich eine Überraschung, dass sich so viele Menschen melden, wenn etwas gratis abgegeben wird? Was wäre passiert, wenn das GA nicht kostenlos, sondern nur vergünstigt gewesen wäre? Diese Frage hätte ein Test mit verschiedenen Preisen für verschiedene Gruppen beantworten können, praktisch umsetzbar war das aber nicht.

«Sobald ein Angebotspaket eine grössere Öffentlichkeit erreicht, kann man nicht zwei Varianten gleichzeitig anbieten. Es wäre zu verwirrend und unglaubwürdig», sagt Lucia Burtscher von der Genossenschaft 42 Hacks. Diese ist Mitinitiantin des Projekts.

Ausserdem brauche es sehr starke Anreize, um festgefahrene Gewohnheiten zu brechen. «Und ‹gratis› ist ein sehr attraktives Argument, um etwas Neues auszuprobieren», sagt Burtscher.

Ein Drittel verkaufte sein Auto

Auch der Zeitpunkt der Aktion könnte das Umsteigen begünstigt haben: Im Sommer, und in den Ferien, ist es wohl einfacher, sein Auto stehen zu lassen, als in einem nasskalten Wintermonat.

Burtscher sagt dazu, dass sie einen frühen ersten Versuch mit zehn Teilnehmern im bernischen Belp im November durchgeführt hätten. «Auch dort stiegen die Leute um. Im Herbst und im Winter, bei Dunkelheit und Schnee, ist Autofahren auch nicht besonders angenehm.»

Entscheidend sei letztlich auch nicht der Versuchsmonat, sondern die Zeit danach. Dann also, wenn die Teilnehmer sich für Auto oder öV entscheiden müssen – und die Abokosten wieder selber tragen müssen.

Im Kanton Bern, wo die Challenge 2023 durchgeführt wurde, verkaufte ein Drittel der 66 teilnehmenden Haushalte das Auto. Kaum jemand ersetzte es durch ein neues.

Doch auch hier stellt sich die Frage nach der Kausalität: Haben diese Personen ihren Wagen tatsächlich wegen der positiven Erfahrungen mit dem Gratis-ÖV-Monat abgestossen, oder meldeten sich nicht vielmehr Teilnehmer, die sowieso schon vom Auto zum öV wechseln und einfach noch einen Bonus abholen wollten?

«Ein Risiko für solche Mitnahmeeffekte besteht bei jeder Aktion, ob gefördert oder nicht», sagt Lucia Burtscher. «Aber es geht nicht nur um das Geld. Die ÖV-Nutzer sind Botschafter in ihrem persönlichen Umfeld. Sie reden mit Freunden und Nachbarn und zeigen ihnen, dass es auch ohne Auto geht.»

«Drastische Selbstselektion»

Wenig von der Massnahme hält Lukas Rühli. Er ist Senior Fellow beim liberalen Think-Tank Avenir Suisse.

«Bei einer solchen Aktion gibt es eine drastische Selbstselektion. Es melden sich in erster Linie jene, die ihr Auto schon jetzt nicht viel nutzen und die es also ohne Probleme auch etwas länger stehen lassen können.»

Aus diesem Grund seien auch die Auswirkungen auf das Verkehrsaufkommen und die Umwelt sehr bescheiden. «Die 1 Prozent Autos, die stehen gelassen werden, entsprechen weder 1 Prozent der Verkehrsleistung noch 1 Prozent des CO2-Ausstosses», sagt Rühli.

Ausserdem sei eine Massnahme, die nur für eine kurze Zeit gelte, nicht geeignet, um das Verhalten der Menschen grundlegend zu verändern. «Wenn der öV für den Rest des Lebens gratis wäre oder für die nächsten zwanzig Jahre, dann hätte dies massive Auswirkungen auf die Investitionsentscheide der Bevölkerung.»

Das bedeute aber nicht, dass ein kostenloser Gratis-ÖV sinnvoll sei, betont Rühli. «Als in Deutschland das 9-Euro-Ticket eingeführt wurde, nahm die ÖV-Nachfrage deutlich zu, die Infrastruktur wurde überlastet. während der Autoverkehr kaum zurückging. Das kann nicht das Ziel sein.»

Letztlich sei die Frage, was das Ziel einer Preisintervention sei. «Wenn der Staat uns zu einem erwünschten Verhalten erziehen will, dann ist das aus liberaler Sicht abzulehnen», sagt Rühli.

Wenn es aber darum gehe, negative externe Effekte zu beseitigen oder zu mindern, etwa verstopfte Strassen oder den Ausstoss von Abgasen, dann müsse man dies über verursachergerechte Kosten angehen – also zum Beispiel über ein Mobility-Pricing oder über den CO2-Preis.

«Bei verursachergerechten Kosten könnte man auch niemandem einen moralischen Vorwurf machen, der weiterhin Auto fährt», sagt Rühli. «Er würde ja für die externen Kosten selbst aufkommen.»

Externe Kosten dürften auch bei der Gratis-GA-Aktion demnächst wieder anfallen: Es gibt Anfragen von verschiedenen weiteren Städten und Kantonen.

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