Wie aus einer gescheiterten Vision für den Autoverkehr das Prestigeprojekt der Zürcher Veloturbos wurde.

Blau-weisse Schuppen an der Decke. Wände aus blankpoliertem grauem Beton. Und Platz, viel Platz. So sieht es also aus, das erste Autobahnstück der Schweiz, das für den Veloverkehr annektiert wird.

Optimieren Sie Ihre Browsereinstellungen

NZZ.ch benötigt JavaScript für wichtige Funktionen. Ihr Browser oder Adblocker verhindert dies momentan.

Bitte passen Sie die Einstellungen an.

Es liegt direkt unter dem Zürcher Hauptbahnhof, wurde jahrelang zum Velotunnel umgebaut und steht nun kurz vor der Eröffnung. Eine Fahrt darin gleicht dem Sprung in den Schlund einer gigantischen versteinerten Schlange.

Sie beginnt neben der Sihlpost mit einer schönen kleinen Abfahrt («Achtung, Bremsen!», warnt die Stadt). Unten wird der Raum immer breiter und höher. Piktogramme warnen: hier bremsen, dort einbiegen, drüben ausweichen.

Dann, in jenem berühmt gewordenen Teilstück, das einst als künftiger Autobahnabschnitt gebaut und dann jahrzehntelang vergessen wurde, wird der Tunnel zur Halle. Sechs Meter breit und sechs Meter hoch.

Hier glänzt an der Decke das, was ohne Zweifel das Wahrzeichen des neuen Tunnels werden wird: eine Serie von senkrechten Metall-Lamellen, die bei der Durchfahrt flimmern und glänzen wie eine glitzernde Schlangenhaut.

Doch selbst diese Schuppen erfüllen laut der Stadt keinen künstlerischen, sondern einen erzieherischen Zweck: Rechts sind sie nämlich weiss, links sind sie blau. Das soll dem Velofahrer, diesem anarchischen Wesen, signalisieren: Rechs fährt man, links kommt der Gegenverkehr.

Am anderen Ende des Tunnels führen zwei Ausfahrten auf das Sihlquai und die Konradstrasse. Der Boden ist gerillt (Bremsen!), ein komplexes System aus Pollern und Erhöhungen regelt den Verkehrsfluss (Kollisonsgefahr!). Die Sonne blendet, das Bauwerk ist durchquert.

Die ganze Durchfahrt dauert keine zwei Minuten. Nach 320 Metern ist der Tunnel schon wieder vorbei. 38,6 Millionen Franken hat er gekostet – viermal so viel wie ursprünglich geschätzt. Auch die Realisierung dauerte statt der angedachten zwei bis drei Jahre deren dreizehn. Am Donnerstagabend wird der «Stadttunnel» nun feierlich für den Verkehr eröffnet.

Für die Stadt Zürich ist das Bauwerk mehr als ein praktisches Stück Verkehrsinfrastruktur. Klar: Der Tunnel entlastet die Strassen um den Hauptbahnhof. Er dürfte auch die Kollisionen zwischen Passanten und illegal querenden Velofahrern in der Vorhalle des Hauptbahnhofs reduzieren. Und er schafft 1240 neue Veloabstellplätze für Pendler.

Vor allem aber, das betonten am Dienstag nicht weniger als drei Mitglieder der Stadtregierung, sei er ein «Prestigeprojekt», eine «Erfolgsgeschichte». Und ein «Symbol».

Dabei ist diese Betonschlange, durch die bald jeden Tag Hunderte Zürcherinnen und Zürcher hindurchbrettern dürften, vor allem eines: ein Beispiel dafür, wie wandelbar die Verkehrsträume in dieser Stadt sein können.

Ein Erbe des Expressstrassen-Y

Die Ursprünge des Projekts liegen nämlich in einer Idee, die wie keine andere für die Auto-Euphorie der Nachkriegszeit steht: Ab den 1950ern planten Stadt, Bund und Kanton in Zürich ein gigantisches Autobahnkreuz.

1955 erstmals von Experten vorgeschlagen, sollte das Expressstrassen-Y drei Autobahnen verbinden – jene aus dem Süden, Norden und Westen der Stadt. Sie sollten mitten in Zürich zusammengeführt werden, gleich neben dem Hauptbahnhof beim Oberen Letten.

Dazu war ein Zubringer über oder durch den Bahnhof nötig – eine Idee, die heute irrwitzig erscheint.

Das Autobahn-Y wurde 1960 offiziell ins Nationalstrassennetz aufgenommen, in den Jahrzehnten darauf war es eines der umstrittensten Themen der Stadtpolitik. Von einem «nicht mehr zu bändigenden Verkehrsmoloch» war die Rede. «Machen Sie diesen Blödsinn nicht!», warnte der bekannte Raumplaner Hans Marti 1961.

Das Projekt war auch Ausdruck einer Zeit, in der das Auto für individuelle Freiheit stand und Strassen nicht als Störenfriede, sondern als Zeichen des Fortschritts betrachtet wurden. Als in Beton gegossene Moderne.

Der Protest gegen das Unterfangen war sowohl für die 68er Bewegung in der Stadt wie auch für den entstehenden Umweltaktivismus zentral. Als Gerippe verkleidet zogen Protestzüge gegen den Autobahnausbau durch Zürich und forderten eine Stadt, die Menschen statt Beton, Natur statt Technik ins Zentrum stellte.

Dennoch wurde 1974 die Sihlhochstrasse und 1985 der Milchbucktunnel eröffnet – beides Teile der Y-Planung. Die Eröffnungen fanden jedoch beide Male fast im Verborgenen statt. Ohne grossen Festakt und lächelnde Magistraten, einmal gar in der Nacht. Aus Angst vor Protesten.

Stadttunnel zu hohem Preis

Das ist nun beim Velotunnel ganz anders. Beim Medienrundgang am Dienstag gibt es Reden, eigens von der Stadt zur Verfügung gestellte Velos und gleich drei lächelnde Mitglieder des Stadtrats. Sie versichern, dass sie alle schon durch den Tunnel gefahren sind («auch die Rampe hoch!»), rollen in wackeligen Schlangenlinien nebeneinander her und posieren dekorativ mit einem Zweirad für die Kameras.

Die Tiefbauvorsteherin Simone Brander (SP) spricht vom neuen «Herzstück des städtischen Veloverkehrs». Die Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) verkündet, man habe es mit dem «wichtigsten Puzzleteil» der städtischen Velopolitik zu tun. Nur Michael Baumer (FDP) bleibt bescheiden, sagt: «Es ist in erster Linie ein Stück Verkehrsinfrastruktur.»

Allerdings eines, bei dem in typisch zürcherischer Manier kein Aufwand gescheut wurde. Das zeigt sich etwa in der gigantischen neuen Velostation unter dem Hauptbahnhof, von der ein Durchgang direkt zu den Gleisen führt. Dort hat es Parkplätze für reguläre Velos, Lastenvelos, E-Trottinette und Ladestationen für E-Bikes.

Der Eingang ist durch Sensoren überwacht, damit dort ja kein Velo zu lange stehen bleibt. Tut es das doch, ertönt ein ohrenbetäubender Alarm – die Zürcher Velofahrerinnen und Velofahrer werden den Klang wohl bald so gut kennen wie das Hupen der Autos, denen sie so gerne halsbrecherisch den Weg abschneiden.

Was beim gegenseitigen Schulterklopfen der Stadtoberen allerdings etwas untergeht: Der Tunnel ist spät fertig geworden, sehr spät. Und zu einem Vielfachen des ursprünglich angedachten Preises.

Ende der 1980er wurde das Herzstück der Anlage gebaut – noch immer, man glaubt es kaum, als Vorbereitung für das Autobahn-Y, das damals längst als politisch tot galt. Beim Bau des unterirdischen S-Bahnhofs Museumsstrasse liess man den Rohbau für einen Tunnel erstellen.

2005 lebte die Idee eines Autotunnels schliesslich ein letztes Mal auf: als Stadt, Kanton und Bund eine unterirdische Verbindung von der Allmend Brunau bis nach Dübendorf planten, die ebenfalls durch das Tunnelstück unter dem Hauptbahnhof hätte verlaufen sollen. Es wurde, welch Wunder, nichts daraus.

In den Jahren darauf wurde der Tunnel-Stummel als Lager genutzt. Einmal hätten sämtliche Rolltreppen des neuen Bahnhofsteils in den dunklen Hallen gelegen, erinnert sich Stadträtin Brander. Sonst aber blieb es still und leer. Ein gigantischer ungenutzter Raum mitten im grössten Bahnhof des Landes.

Viel Bürokratie, lange Bauzeit

2012 verlangte der Verein Pro Velo die Umnutzung zum Velotunnel. Gute Idee, hiess es damals vonseiten der Stadt. Bis 2014 sei das wohl zu machen, für einen hohen einstelligen Millionenbetrag.

Dann kam die Bürokratie: Verhandlungen mit dem Bund, der für die Autobahnen zuständig ist. Dem Kanton, der das Tunnelstück besitzt. Es brauchte Bewilligungen, Verträge, Richtplaneinträge. Dazu kamen Komplikationen beim Bau von Rampen und Brandschutzanlagen.

Glaubt man der rot-grünen Mehrheit in der Stadtregierung, ist der Tunnel die Krönung eines grundlegenden Wandels, den die städtische Verkehrspolitik in den letzten Jahrzehnten durchlaufen hat: hin zum Velo-, Tram- und Fussverkehr. Weg vom Auto.

Blickt man in seine Geschichte, ist jedoch auch eine andere Interpretation möglich: Dieser Tunnel zeigt wie kaum ein anderes Projekt in der Zürcher Baugeschichte, dass sich die Zukunft des Stadtverkehrs zwar planen, aber nicht vorhersagen lässt.

Was vor 70 Jahren das Auto symbolisierte – Fortschritt, Freiheit, Ästhetik –, tun in Zürich heute andere Gefährte. Wie das in 70 Jahren sein wird? Das weiss auch im Stadttunnel niemand, aller in Beton gegossenen Selbstversicherung zum Trotz.

Exit mobile version