Der stellvertretende ukrainische Ministerpräsident Michailo Fedorow will die Ukraine zu einem digitalisierten Staat machen. Dies sei für den Kampf gegen Russland und die Korruption im eigenen Land zentral.
Herr Fedorow, Sie stammen aus dem Gebiet Saporischja, ihre Heimatstadt Wasiliwka ist seit über zwei Jahren besetzt. Wie beeinflusst das Ihre Arbeit?
Es motiviert mich zu kämpfen. Ich versuche, Einheiten am dortigen Frontabschnitt aktiv zu helfen. Meine Heimatstadt trage ich immer in meinem Herzen. Ich tue alles, damit sie schneller befreit wird.
Als stellvertretender Regierungschef sind Sie auch für die Digitalisierung zuständig. Wie wichtig ist deren Rolle im Krieg?
Sie stellte sicher, dass der Staat weiter funktionierte und dass wir zu Beginn auch mit unseren Bürgern in den okkupierten Gebieten Kontakt halten konnten. Wir konnten rasch auf Probleme reagieren. Über die Applikation Dija (siehe Kasten) überwiesen wir den Leuten, die fliehen mussten, rasch umgerechnet 22,3 Millionen Franken. Unsere Agenten schickten uns Meldungen über feindliche Truppenbewegungen, bisher eine halbe Million Mal.
Russlands Invasion hat viele Bürger vertrieben . . .
Ja, viele Familien wurden getrennt. Die Männer dienen im Militär, die Frauen leben woanders. Deshalb haben wir die Möglichkeit geschaffen, online zu heiraten – über eine Videoverbindung.
Der Krieg hat die Zahl digitaler Dienstleistungen stark erhöht. Ihr Plan, Stellungsbefehle über Dija zuzustellen, scheiterte aber. Weshalb?
Man entschied sich für ein anderes Produkt, die Applikation Reserve +. Eine Million Wehrpflichtiger hat dort in den letzten Wochen ihre persönlichen Daten aktualisiert. Bald kann man auch einen Vertrag unterzeichnen, um in die Armee einzutreten.
Wäre es nicht einfacher gewesen, das über Dija zu machen?
Die Applikation untersteht dem Verteidigungsministerium, so können wir die Daten besser schützen. Aber der Mann, der sie entwickelte, kam aus meinem Team. Seither ist die Kooperation mit der Militärbürokratie deutlich leichter geworden.
Man hört immer wieder, die Streitkräfte zeigten sich skeptisch gegenüber digitalen Lösungen. Diese würden deshalb zu wenig in bestehende Strukturen integriert. Machen Sie ähnliche Erfahrungen?
Es gibt noch keine einheitliche Kultur. Aber das ändert sich. Wir brauchen die Digitalisierung, um auf dem Schlachtfeld zu bestehen. Im Krieg geht es heute darum, alle relevanten Systeme zu vernetzen. Anders geht es nicht. Über Starlink sind wir stets verbunden und tauschen Informationen aus.
Ohne Starlink geht also wenig?
Ja, das System ist von kritischer Bedeutung.
Ihre Beziehungen zu Elon Musk sind nicht einfach. Er polarisiert in der Ukraine oft mit seinen Aussagen.
Die Beziehungen sind voll in Ordnung. (Lacht.) Konstruktiv.
Vor einigen Wochen kam es bei der russischen Offensive gegen Charkiw plötzlich zu Unterbrüchen bei Starlink. Sind diese behoben?
Jetzt funktioniert alles.
Haben die Russen neue Möglichkeiten, das System zu stören?
Sie versuchen es. Es gab auch andere Faktoren. Aber Krieg ist die Kunst der Täuschung. Deshalb kann ich nicht sagen, was wirklich war.
Die Russen sind bei der elektronischen Kampfführung sehr stark. Wie begegnet die Ukraine dieser Übermacht?
Das sind sie. Wir haben deshalb Ausschreibungen für Firmen im Bereich der elektronischen Kampfführung gemacht. So schufen wir einen Markt, wo sie miteinander konkurrieren. Es gibt bereits Tausende von unterschiedlichen Produkten für die Front. Deshalb leisten wir gut Widerstand.
Reicht das?
Wir müssen das nächste technologische Level erreichen, die Systeme in Echtzeit synchronisieren – miteinander und mit unseren Drohnen. Jede neue Waffe braucht eine neue Organisationsform. Sie zu schaffen, ist die entscheidende Aufgabe im nächsten Jahr.
Spielt künstliche Intelligenz bereits eine Rolle?
Ja, auf der taktischen Ebene. Wir setzen sie ein, um Drohnen auf den letzten 200 oder 300 Metern ins Ziel zu führen, wenn die Verbindung durch Störsender unterbrochen wurde. Sie sollte aber grossflächiger verwendet werden, das ist unser Ziel: In Zukunft scannen Drohnen ständig das Schlachtfeld, und das System sagt uns, wo wir mit welcher Waffe zuschlagen sollen.
Das klingt nach Science-Fiction.
Es ist eine strategische Notwendigkeit. Die Firma Palantir stellt uns gratis ein Produkt zur Verfügung, das gleichzeitig die Zielauswahl regelt und die Digitalisierung der Logistik ermöglicht. Um es effizient einzusetzen, braucht es noch grössere organisatorische Änderungen. Präsident Selenski und der Generalstab arbeiten daran, aber das geht nicht über Nacht.
Sie haben nun wiederholt den Widerstand der etablierten Strukturen gegen die Digitalisierung angesprochen. Woher kommt dieser?
Wir haben viele alte Gesetze und Regulierungen aus der postsowjetischen Ära, die wir ändern müssen. Und es gibt nicht genügend effektive Manager, die gute Entscheidungen treffen. Digitalisierung heisst eben nicht nur, existierende Strukturen zu digitalisieren. Wir wollen das ganze System neu aufstellen.
Was meinen Sie konkret?
Wir wollen nicht den Staat vergrössern, sondern Wirtschaft und Demokratie entwickeln. Wir müssen die Dienstleistungen automatisieren. Wer früher eine Firma gründen wollte, stand zuerst lange an, um Dokumente einzuholen. Dann liess man sie kopieren und stand wieder an, um sie abstempeln zu lassen. Nun kannst du alles über Dija registrieren lassen, in drei Klicks. Die Beamten sind nicht mehr Teil des Prozesses.
Gibt es damit auch weniger Korruption?
Wir erleben eine Wende in der gesellschaftlichen Wahrnehmung: Die Ablehnung der Korruption ist im Krieg stark gewachsen. Die Leute reagieren darauf sehr, sehr negativ. Wir brauchen deshalb beim Staat eine Nulltoleranz gegenüber Korrupten. Manchmal müssen wir 30 oder 40 Leute entlassen, weil wir ihnen nicht trauen. Natürlich haben wir noch immer viele Probleme, gerade in den Regionen, es ist ein langer Weg. Aber durch die Digitalisierung erreichen wir schneller Resultate.
Die Opfer, welche die Leute erbringen müssen, schaffen zusammen mit der Annäherung an die EU Druck, die Korruptionsbekämpfung zu verstärken. Aber hat der Krieg nicht auch den gegenteiligen Effekt?Dass etwa bei Beschaffungen der Armee unter dem Deckmantel von Militärgeheimnissen Transparenz verweigert wird?
Wir sehen immer wieder Korruption und Inkompetenz bei Beschaffungen des Militärs. Das Wichtigste ist, dass die Zuständigen von Anfang an das Rechtssystem einbinden, damit es eine Kontrolle gibt. Nicht zu versuchen, alles extra zu schliessen, sondern alles möglichst weit öffnen, damit es Transparenz gibt.
Vor 2022 wurden Beschaffungen der Armee über die offene Plattform Prozorro abgewickelt, dann setzte man das System weit über ein Jahr lang aus.
Das Beispiel zeigt aber, dass solche Probleme technologisch lösbar sind. Es gibt auf Prozorro neu ein geschlossenes Modul für Rüstungskäufe: Das Antikorruptionsbüro überwacht die Ausschreibungen, während die Sicherheitsanforderungen gewahrt werden. Das Verteidigungsministerium spart so Geld. Wir machten das von Anfang an so, als ich unser Drohnenprogramm aufsetzte. Wichtig ist, den Firmen das Interesse an Bestechung zu nehmen, weil sie anständig verdienen, verlässliche Verträge erhalten und wir die Margen stark erhöht haben.
Und doch bleiben Grauzonen. Der Bau von Verteidigungsstellungen im Gebiet Charkiw etwa geschah ohne Ausschreibungen.
Ja, das stimmt. Aber auch da kann man in Zukunft geschlossene Ausschreibungen auf Prozorro durchführen, teilweise wird es bereits gemacht.
Erschwert der Krieg nun insgesamt den Kampf gegen Korruption, oder erleichtert er ihn?
Wir müssen lernen, gleichzeitig zu kämpfen und rasch Entscheidungen zu treffen, die auf Transparenz basieren. Das hat im Krieg noch kein Land der Welt geschafft, aber wir werden in einem Jahr so weit sein. Ich bin froh, dass bei uns unabhängige Antikorruptionsinstitutionen tätig sind. Ich sehe die positive Transformation.
Zu zeigen, dass die Ukraine zu rechtsstaatlichen Reformen fähig ist, ist auch wichtig für die Hilfsbereitschaft im Westen.
Ohne unsere Partner könnten wir weder Pensionen noch Löhne bezahlen. Doch unser Ziel ist ein superdigitalisierter Staat, effizient und für die Bürger. Die Höhe der Unterstützung wird von unserer Transparenz abhängen. Bei der Digitalisierung versuchen wir, den Partnern zu zeigen, was wir tun, wie wir uns entwickeln. Sie sollen das Gefühl haben, dass sie nicht einfach Milliarden für die Ukraine ausgeben, sondern dass die Transformation ein Teil ihres Erfolgs ist. Dass sie etwas mit aufbauen, was in die Geschichte eingeht.
Aushängeschild der digitalisierten Ukraine
Seit 2019 ist Michailo Fedorow als stellvertretender Ministerpräsident in der ukrainischen Regierung für die Digitalisierung zuständig. Der 33-Jährige gilt als eines der Aushängeschilder seines Landes: Als ehemaliger Marketingunternehmer verkörpert er die moderne, reformfreudige Ukraine, gerade auch auf der internationalen Bühne. Das verleiht ihm trotz fehlender eigener Machtbasis in den oft intransparenten etablierten Strukturen ein gewisses politisches Gewicht. Seit 2023 ist er zusätzlich für Wissenschaft und Bildung zuständig, und er wurde in den nationalen Verteidigungsrat aufgenommen.
Fedorow spielt seit Russlands Invasion im Februar 2022 auch militärisch eine Rolle. Er baute die Fundraising-Plattform der Regierung auf, die unter anderem für eine «Armee der Drohnen» sammelte. Diese hat den Verlauf des Krieges massgeblich mitgeprägt. Er verantwortete zudem die Ausweitung der staatlichen Dienste, die über die digitale Plattform Dija abgewickelt werden können. Diese Applikation ist heute weit mehr als ein digitaler Pass und wird von 20,5 Millionen Ukrainerinnen und Ukrainern genutzt.
An der Entwicklung war die Schweiz stark beteiligt. Seit 2015 hat die Regierung 27,6 Millionen Franken in die Digitalisierung des ukrainischen Staates investiert. Anfang Juni kündigte sie nach dem Besuch von Fedorow weitere 58,7 Millionen für die nächsten vier Jahre an. Die Eidgenossenschaft gehört damit zu den grössten Geberländern in diesem Bereich. «Im Krieg haben wir nie genug Ressourcen und Experten. Deshalb rettet uns Hilfe wie jene der Schweiz», sagt der stellvertretende Ministerpräsident Fedorow.

