Dienstag, Januar 7

Während die Indigenen Unterstützung vom Supreme Court erhalten, setzt die Regierung weiter auf eine Almosenpolitik. Zwei Angehörige der Cree-Nation erklären, wie ihre Völker die Armut überwinden könnten.

Für Ron Lameman findet zurzeit ein totaler Angriff der kanadischen Regierung auf die angestammten Rechte der Indigenen statt. Dabei bezieht sich der Angehörige der Cree-Nation auf die historischen Verträge mit der britischen Krone. Lameman ist Präsident des International Indian Treaty Council, welcher für die Selbstbestimmung der indigenen Völker Nord-, Mittel- und Südamerikas und die Anerkennung ihrer historischen Vertragsrechte kämpft. Wir treffen ihn bei einem Zwischenhalt in Zürich nach Verhandlungen vor dem Uno-Menschenrechtsrat in Genf.

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«Es passiert zurzeit vieles, was das Leben meiner Leute sehr erschwert», erklärt der Cree. «Viele Orte, an denen wir bis anhin jagten, fischten, Beeren pflückten und Pflanzen für traditionelle Medikamente sammelten, werden uns entzogen. Unser Land, unsere Lebensgrundlage werden zerstört. Die kanadische Regierung versucht Gesetze zu erlassen, welche unsere historischen Rechte als Vertragspartner der britischen Krone beeinträchtigen, ohne uns in den Prozess einzubeziehen.»

Lameman verweist damit auf Rechte, die im britischen Common Law als «Aboriginal Title» bezeichnet werden. Nach dieser Rechtsauffassung sind die souveränen Rechte der Indigenen mit der Eroberung Kanadas nicht einfach ausgelöscht worden, sondern sie bestehen mindestens zum Teil bis heute weiter. Im Falle von Kanada sind sie durch unilaterale Erklärungen der Krone und Verträge mit den indigenen First Nations immer wieder bestätigt worden, seit 1973 auch durch den kanadischen Supreme Court.

«Land ist für uns das Wichtigste, denn ohne Land sind wir niemand», sagt Sharon Venne, eine Rechtsanwältin von der Cree-Nation, die zusammen mit Ron Lameman seit fast vierzig Jahren vor der Uno und in Kanada für die Landrechte der Indigenen kämpft. «Unser Land definiert, wer wir sind. Denn unsere Geschichte basiert auf dem Land, unseren Gesetzen und unserer Selbstregierung. Auch unsere Sprache ist vom Land beeinflusst, alles kommt für uns vom Land. Alles andere ist deshalb für uns zweitrangig.»

Anerkennung der Indigenenrechte durch die britische Krone

Die erste offizielle Anerkennung des «Aboriginal Title» durch die britische Krone geschah in der sogenannten königlichen Proklamation von König George III. von 1763. Darin erklärte dieser den grössten Teil des heutigen Kanada zum Land der Indianer. Diese sollten darin nicht durch Siedler gestört werden. Bis zu einem allfälligen rechtmässigen Kauf durch die britische Krone sollte dieses Land von London treuhänderisch für die sich selbst regierenden indianischen Nationen verwaltet werden.

Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr Siedler in die indianischen Gebiete vorstiessen, schloss die britische Krone zwischen 1871 und 1921 mit der Mehrheit der First Nations die sogenannten elf nummerierten Verträge ab. Diese umfassten einen grossen Teil des heutigen Kanada, jedoch nicht die Provinz British Columbia am Pazifik. Jeder der Verträge definierte und anerkannte das traditionelle Territorium der daran beteiligten indigenen Völker. Diese öffneten ihr Land für weisse Siedler und zur Gewinnung von Rohstoffen, ohne aber auf ihre Eigentumsrechte ganz zu verzichten. Sie behielten Nutzungsrechte auf dem traditionellen Territorium. Im Gegenzug wurden ihnen Unterstützung mit Nahrungsmitteln, landwirtschaftliche Geräte, Schulen und ein Gesundheitsdienst versprochen.

Bis heute sind nur rund zehn Prozent des kanadischen Landes in Privatbesitz. Der Rest ist sogenanntes Crown Land, das von Ottawa oder von den Provinzen verwaltet wird. Vertreter und Vertreterinnen der First Nations pochen darauf, dass aufgrund ihrer Landrechte für bauliche Entwicklungen, Abholzung und Bergbau in ihren Territorien ihre «freie, vorherige und informierte Zustimmung» (free, prior and informed consent) erforderlich ist. Die Nichteinhaltung dieser Vorgabe durch die kanadischen Behörden hat in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu in einzelnen Fällen auch blutigen Konflikten mit den First Nations geführt.

Die kanadische Regierung zeigte sich seit der Gründung eines teilweise von London unabhängigen Bundesstaates im Jahre 1867 wenig willig, die Landrechte und die Selbstregierung der First Nations anzuerkennen. Dies umso mehr, nachdem 1923 Chief Deskaheh als Vertreter der sechs Nationen der Irokesen nach Genf gereist war und darauf hingearbeitet hatte, dass diese vom Völkerbund als eigenständiges Mitglied anerkannt wurden. Er erhielt dabei Unterstützung von Irland, Panama, Estland und Persien, doch Druck vom britischen Aussenministerium liess sein Vorhaben letztlich scheitern. Aufgeschreckt von den Souveränitätsansprüchen der Indigenen, erliess das kanadische Parlament 1927 einen Zusatz zum Indianergesetz, welcher bis 1951 verhinderte, dass die Ureinwohner vor Gericht überhaupt Landansprüche geltend machen konnten.

In den letzten fünfzig Jahren begann aber der kanadische Supreme Court die Landansprüche der First Nations zunehmend zu unterstützen. Im bahnbrechenden Urteil Calder v. British Columbia anerkannte das Gericht 1973 erstmals, dass die Indigenen Aboriginal-Title-Rechte besassen. Die Richter konnten sich allerdings noch nicht darauf einigen, was diese in der heutigen Zeit konkret bedeuten.

Verfassungsmässige Bestätigung der Landrechte

Doch wenige Jahre später erhielten die Indigenen weitere Rückendeckung für ihre Ansprüche durch die sogenannte Heimholung der kanadischen Verfassung von 1982. Bis dahin besass das britische Parlament immer noch das Recht, das Gesetz, das 1867 den kanadischen Bundesstaat begründete und effektiv dessen Verfassung darstellte, zu ändern. Der damalige kanadische Premierminister Pierre Trudeau wollte nun diese verfassungsrechtlichen Bindungen an das Vereinigte Königreich loswerden. Dazu musste das britische Parlament ein Gesetz erlassen, das anschliessend Teil der kanadischen Verfassung werden sollte.

Als Pierre Trudeau darin die Rechte der First Nations nicht festgeschrieben haben wollte, führte dies sofort zu heftigen Protesten vonseiten der Indigenen. Sie erhielten Unterstützung vom prominenten englischen Lordrichter Alfred Thompson Denning, der erklärte, dass kein Parlament die Garantien der Krone gegenüber der Urbevölkerung von Kanada schmälern dürfe. Um von London das Plazet zur verfassungsmässigen Loslösung zu erhalten, musste Trudeau einen Abschnitt im Verfassungsgesetz akzeptieren, der die Rechte der Indigenen festschreibt: «Die bestehenden Eingeborenen- und Vertragsrechte der Ureinwohner von Kanada werden hiermit anerkannt und bestätigt.» (Section 35)

In einem richtungsweisenden Urteil lieferte der kanadische Supreme Court 1997 eine umfassende Interpretation von Natur und Umfang der Aboriginal-Title-Rechte der First Nations basierend auf dem Verfassungsgesetz von 1982 (Delgamuukw v. British Columbia). Ausserdem erklärte er, wie ein Kläger diese Rechte nachweisen muss. Dabei wurden erstmals auch mündliche Zeugnisse zugelassen.

In einem weiteren Schlüsselurteil erklärte das Gericht 2014, dass eine Provinz beispielsweise nicht einseitig Abholzung auf Aboriginal-Title-Land zulassen darf, ohne zuvor eine echte Konsultation mit der betroffenen First Nation durchgeführt zu haben (Tsilhqot’in Nation v. British Columbia). Gleichzeitig bestimmten die Richter erstmals den Umfang des betroffenen Landes im Falle der Tsilhqot’in.

Verzögerungstaktik der kanadischen Regierung

Während inzwischen kanadische Gerichte in mehr als 150 Fällen indigene Landrechte bestätigten, sträubt sich die Politik gegen die Anerkennung dieser Rechte. «Der Entscheid eines Gerichts reicht nicht aus. Wir müssen danach auch dafür sorgen, dass er umgesetzt wird», erklärt Sharon Venne. Vertreter der Bundesregierung hätten ihr immer wieder offen gesagt: «Dies ist eine Entscheidung der Richter, doch wir haben unsere eigene Interpretation des Sachverhalts.»

Der kanadische Staat hat tatsächlich immer wieder versucht, den speziellen Status und die Rechte der Indigenen aufzuheben und diese in der weissen Mehrheitskultur zu assimilieren. 1969, vier Jahre vor dem historischen Calder-Urteil, hat der damalige Minister für indianische Angelegenheiten und spätere Premierminister Jean Chrétien in einem White Paper dargelegt, dass alle juristischen Dokumente, Verträge und Gesetze, welche den Indigenen einen Sonderstatus geben, für ungültig erklärt werden sollen. Innerhalb des kanadischen Bundesstaates dürfe es keine Sonderverträge mit First Nations geben.

1996 veröffentlichte eine von der Regierung eingesetzte Kommission nach fünfjähriger Arbeit einen Bericht zur Lage der indigenen Bevölkerung. Deren Empfehlungen sind bis heute kaum umgesetzt worden. Inzwischen kommt die Regierung aber auch international unter Druck. 2007 verabschiedete die Uno-Generalversammlung mit grosser Mehrheit die Deklaration über die Rechte der indigenen Völker – einzig Kanada, die USA, Australien und Neuseeland stimmten dagegen. Während 25 Jahren hatten auch Ron Lameman und Sharon Venne sowie weitere Vertreter der First Nations an der Erklärung mitgearbeitet.

Erträge aus Landrechten statt staatlicher Hilfsprogramme

Die kanadische Regierung ist sich inzwischen bewusst, dass sie sich um die Rechte der Indigenen nicht einfach foutieren kann. Sie versucht deshalb mit mässigem Erfolg, Verträge mit First Nations zu unterzeichnen, bei welchen diese gegen eine finanzielle Entschädigung auf ihre Aboriginal-Title-Rechte verzichten.

Diese Politik hat die Indigenen gespalten. Während ein Teil von ihnen bereit ist, das Geld anzunehmen, wird dies etwa von Ron Lameman strikt abgelehnt: «Die Regierung versucht, uns ein für alle Mal auszuzahlen, so dass die Rechte aus den Verträgen für unsere kommenden Generationen verlorengehen. Viele von uns lehnen das ab. Unsere Vorfahren haben das uns nicht angetan, wir können das unseren Nachfahren auch nicht antun. Aber einige von uns sind so arm, dass sie das Geld akzeptieren.»

Statt Sozialprogrammen und anderer finanzieller Unterstützung durch den kanadischen Staat wollen die Gegner neuer Verträge, dass der Reichtum aus ihren Landrechten ihren Völkern zugutekommt, als Quelle auch für die zukünftigen Generationen. Es ist ihnen wichtig zu unterstreichen, dass sie nicht gegen den Ressourcenabbau und die Erdöl- und Gasförderung sind, doch sie wollen an den Entscheidungen beteiligt und entschädigt werden.

Wie ein prominenter politischer Führer der First Nations, der 2017 verstorbene Arthur Manuel, in seinem preisgekrönten Buch «Unsettling Canada: A National Wake-up Call» darlegt, sollen die Erträge aus den Landrechten dazu verwendet werden, um eine indigene Wirtschaft aufzubauen und die grassierende Armut vieler Indigener zu bekämpfen.

Manuel war ein Verfechter von politischer und wirtschaftlicher Autonomie für die Indigenen. Statt der von der «Indianerbürokratie» der Regierung in Ottawa verordneten staatlichen Hilfsprogramme sollen die Indigenen seiner Ansicht nach selbst darüber bestimmen, was in ihren Gebieten ausgebeutet werden soll und wie sie die ihnen zustehenden Royaltys aus der Holzfällerei und dem Abbau von Rohstoffen zur Entwicklung ihrer Völker einsetzen.

Die kanadische Regierung ist nicht begeistert von solchen Forderungen. Der Export von Rohstoffen ist ein bedeutender Teil der Wirtschaft des Landes. Viele der Rohmaterialien werden ausgebeutet in Gebieten, in welchen die First Nations Aboriginal-Title-Rechte geltend machen. Das würde bedeuten, dass die Ausbeutung erschwert und die Royaltys (Lizenzgebühren) geteilt werden müssten. Der indigene Kampf um die Landrechte dürfte damit auch in Zukunft weitergehen.

Das Interview mit Ron Lameman und Sharon Venne fand anlässlich des 50-Jahr-Jubiläums der Menschenrechtsorganisation Incomindios statt, welche sich für die Rechte indigener Völker einsetzt.

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