Dienstag, Oktober 22

Mit der Einigung kehren die beiden Länder zu der Situation vor dem Grenzkonflikt im Sommer 2020 zurück, als Dutzende Soldaten im Hochgebirge getötet wurden. Damit könnte der Weg für ein Treffen von Modi und Xi geebnet sein.

Im Grenzstreit zwischen Indien und China geht es um Gebiete, die kaum besiedelt und extrem abgelegen sind. Auf einer Höhe über 4000 Metern ist das Klima harsch und kaum gemacht für menschliche Besiedlung. Die Vegetation ist spärlich, im Winter liegt hoher Schnee, und die einzigen regulären Bewohner sind tibetische Nomaden. Von den grösseren Siedlungszentren in Indien sind die umstrittenen Gebiete eine Tagesreise entfernt und nur über Pässe erreichbar, die oft wegen Schnee, Steinschlag oder Erdrutschen unpassierbar sind.

In dieser Region im Hochgebirge lieferten sich China und Indien im Jahr 2020 blutige Kämpfe. Im Streit um ein indisches Strassenbauprojekt im Galwan-Tal gingen die Truppen beider Seiten im Juni 2020 mit Knüppeln aufeinander los. Auf indischer Seite wurden zwanzig Soldaten getötet, die Zahl der chinesischen Opfer ist bis heute nicht publik. Um weitere Zusammenstösse zu verhindern, wurden die Patrouillen im umstrittenen Gebiet eingestellt und Pufferzonen eingerichtet.

Nach langen Verhandlungen haben sich die beiden Seiten nun auf die Beilegung ihrer Streitigkeiten geeinigt. Wie Indiens Aussenminister Subrahmanyam Jaishankar am Montag mitteilte, ist der Abzug der Truppen abgeschlossen und die Lage zu dem Zustand vor den Zusammenstössen von 2020 zurückgekehrt. Der indische Spitzendiplomat Vikram Misri sagte, die ausstehenden Streitpunkte seien gelöst und es sei die Wiederaufnahme der Patrouillen vereinbart worden.

Spekulationen über Treffen beim Brics-Gipfel in Kazan

Die Einigung erfolgte kurz vor der Abreise von Indiens Premierminister Narendra Modi und Chinas Präsident Xi Jinping zum Brics-Gipfel, der am Dienstag in der russischen Stadt Kazan begann. Die beiden Staatsführer sind sich seit den Kämpfen im Galwan-Tal zwar oft auf internationalen Konferenzen begegnet, sind aber nur zwei Mal für ein direktes Gespräch zusammengekommen. Da die wichtigsten Streitpunkte nun ausgeräumt sind, könnte der Boden für ein bilaterales Treffen bereitet sein.

Nach den Kämpfen im Galwan-Tal hatte China rund 140 000 zusätzliche Soldaten und schwere Waffen an die Grenze zu Indien geschickt – rund 50 000 in Ladakh im Westen und rund 90 000 in Assam und Arunachal Pradesh im Osten. Auch Delhi hatte seine Truppen massiv verstärkt. Inzwischen haben beide Seiten den Grossteil der Truppen wieder abgezogen. Indien ist aber weiterhin besorgt über den Ausbau von Chinas militärischen Einrichtungen an der Grenzlinie.

Desolate Hochgebirgswüste ohne strategische Bedeutung

Laut indischen Medien umfasst die Einigung auch die umstrittenen Gebiete an der gebirgigen Grenze in Arunachal Pradesh im Osten. Vor allem aber geht es um die Hochgebirgstäler von Demchok und Depsang in Ladakh. Beide liegen an der sogenannten Line of Control (LOC), die seit dem indisch-chinesischen Grenzkrieg von 1962 die informelle Grenze bildet. Damals hatte die Volksbefreiungsarmee die Inder aus mehreren umstrittenen Gebieten verdrängt.

Die Depsang-Ebene liegt auf 5200 Metern zwischen hohen Bergen im äussersten Norden Indiens. Früher verlief durch das Tal eine Karawanenroute von Zentralasien nach Leh, der Hauptstadt der buddhistischen Region Ladakh. Seit dem Krieg 1962 ist die Grenzregion aber praktisch unpassierbar. Demchok liegt etwas weiter östlich auf 4200 Metern Höhe am Oberlauf des Indus. Anders als in Depsang, wo das harsche Klima kaum Vegetation erlaubt und die Militärlager die einzigen Siedlungen sind, gibt es in Demchok einige Nomaden.

Die Hartnäckigkeit, mit der Peking und Delhi seit Jahrzehnten um diese desolaten Täler streiten, hat wenig mit ihrer strategischen Bedeutung und viel mit nationalistischer Stimmungsmache zu tun. Beide Regierungen wollen bei dem Thema Stärke demonstrieren, jedes Zugeständnis wird in der aufgeladenen Atmosphäre als Zeichen der Schwäche gesehen. Trotz der jetzigen Einigung zur Wiederaufnahme der Patrouillen erscheint daher eine Verhandlungslösung zur dauerhaften Demarkation des Grenzverlaufs weiter unwahrscheinlich.

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