Geschirr abwaschen, Schuhe putzen, Wache stehen – zehn Tage lang müssen hohe Politiker im wichtigsten Heiligtum der Sikhs für ihre «Sünden» Busse tun. Grund für den kuriosen Vorgang ist ein Urteil der obersten Autorität der Sikhs.
Eigentlich sind Religion und Politik in Indien strikt getrennt. Das Land ist schliesslich eine säkulare Demokratie. Doch die meisten Inder sind tiefreligiöse Menschen, in deren Alltag der Glaube eine prägende Rolle spielt. Wenig bewegt die Gefühle und prägt die Identität so wie die Religion – egal ob es sich um Hindus, Muslime, Christen oder Sikhs handelt. Religiöse Fragen sorgen regelmässig für Kontroversen in der Politik, und viele Parteien sind konfessionell geprägt. In der Praxis sind die Sphären von Religion und Politik daher oft vermischt.
Doch auch in Indien ist es nicht alltäglich, was sich jüngst bei den Sikhs im nordindischen Teilstaat Punjab ereignet hat. In einem kuriosen Entscheid wies die oberste Autorität der Sikhs führende Politiker an, im Goldenen Tempel in Amritsar für ihre «Sünden» Busse zu tun. Punjabs langjähriger Vizeregierungschef Sukhbir Singh Badal und mehrere seiner Minister wurden dazu verdonnert, im wichtigsten Heiligtum der Sikhs zehn Tage lang Gemeinschaftsdienst zu leisten.
Zu ihren Pflichten gehört es, die Schuhe der Pilger zu putzen, in der Gemeinschaftsküche das Geschirr zu spülen und die Waschräume der Pilgerunterkünfte zu säubern. Der 62-jährige Badal musste am Dienstag im traditionellen Gewand der Tempelwächter und ausgerüstet mit einem Speer antreten, um am Eingang Wache zu halten – um den Hals ein Schild, das ihn als Sünder ausweist. Andere politische Schwergewichte wurden dazu verurteilt, die Toiletten zu putzen.
Ein religiöses Urteil für eine politische Partei
Alle Politiker gehören der traditionsreichen Sikh-Partei Shiromani Akali Dal an, die über Jahrzehnte die Politik in Punjab geprägt hat. Badal war bis Juni ihr Vorsitzender. Die 1920 gegründete Regionalpartei zählt zu den ältesten politischen Formationen Indiens, doch hat sie in letzter Zeit deutlich an Rückhalt in der Bevölkerung verloren. Die Strafe gegen die Politiker wurde vom Akal Takht, der höchsten Instanz des Sikhismus, verhängt für ihre Verfehlungen zwischen 2007 und 2017, als ihre Partei die Regierung in Punjab stellte.
Die oberste Autorität der Sikhs wirft Badal und den anderen Politikern insbesondere ihren Umgang mit einer Blasphemie-Kontroverse vor, die 2015 in Punjab für heftige Proteste sorgte. Anhänger einer Sekte wurden damals beschuldigt, das heilige Buch der Sikhs («Guru Granth Sahib») zerrissen und entweiht zu haben. Bei Protesten aufgebrachter Sikhs wurden zwei Personen von der Polizei erschossen. Fromme Sikhs warfen Badal vor, das heilige Buch nicht geschützt zu haben.
Die Strafen, welche die fünf Mitglieder des Akal Takht nun gegen Badal und die anderen Politiker verhängt haben, sorgen für Diskussionen in Indien. Dass eine religiöse Instanz einen Politiker für sein politisches Handeln bestraft, ist in einem säkularen Staat eigentlich nicht vorgesehen. Erst recht wirft es Fragen auf, dass der Akal Takht sich auch explizit zur gegenwärtigen Politik von Shiromani Akali Dal geäussert und eine politische Neuausrichtung der Partei gefordert hat.
Ein Mordversuch verschärft noch die Spannungen
Zusätzlich für Aufregungen sorgte, dass am Mittwoch ein radikaler Sikh versuchte, auf Badal zu schiessen, als dieser am Eingang des Goldenen Tempels Wache schob – wegen einer Beinverletzung im Rollstuhl. Der Mann wurde von Badals Personenschützern überwältigt, doch löste sich im Handgemenge ein Schuss, der in eine Wand einschlug. Bei dem Angreifer handelt es sich um einen radikalen Anhänger der Khalistan-Bewegung, die für einen unabhängigen Sikh-Staat in Punjab kämpft.
#WATCH | Punjab: Bullets fired at Golden Temple premises in Amritsar where SAD leaders, including party chief Sukhbir Singh Badal, are offering ’seva‘ under the religious punishments pronounced for them by Sri Akal Takht Sahib, on 2nd December.
Details awaited. pic.twitter.com/CFQaoiqLkx
— ANI (@ANI) December 4, 2024
Über sein Motiv war zunächst nichts bekannt, doch ist er für seine Ablehnung der geltenden politischen Ordnung in Punjab bekannt. Schon mehrfach sass der Extremist wegen separatistischer Aktivitäten und Terrorismus im Gefängnis. Die in Indien verbotene Khalistan-Bewegung, die er unterstützt, ist in erster Linie eine politische Bewegung, doch ist der Staat, den sie für die Sikhs anstrebt, religiös geprägt. Von einer klaren Trennung von Politik und Religion, wie sie die indische Verfassung fordert, sind die Sikhs derzeit weit entfernt.

