Mittwoch, Januar 8

Norddeutschland werde dank viel grüner Windenergie zum sauberen «Ruhrpott von morgen». Das hoffen Politiker und Unternehmen vor Ort. An diesem Narrativ hegen Ökonomen erhebliche Zweifel.

«Den nächsten industriellen Boom wird es in Norddeutschland geben – Industrie folgt Energie»: Dieser Satz von Stephan Weil in einem Interview mit der NZZ hat ihm einigen Spott in den sozialen Netzwerken eingebracht. Doch der sozialdemokratische Ministerpräsident des Bundeslandes Niedersachsen ist längst nicht der Einzige im Norden Deutschlands, der sich von der Umstellung der Energieversorgung auf Windkraft, Solarenergie und Biomasse einen Wirtschaftsboom erhofft.

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Der Nordwesten könne der «Ruhrpott von morgen» werden – nur mit sauberer Luft, erklärte zum Beispiel Stefan Dohler, der Chef des Oldenburger Energieversorgers EWE, in einer Reihe von Interviews und bei Auftritten. Sind die Hoffnungen von Weil und Dohler begründet?

Von Wasser bis Atom

Die Verfügbarkeit von Energie war in der Vergangenheit tatsächlich häufig ein wichtiges, wenn auch nicht das einzige Kriterium für die Ansiedelung von Industrien, wie der Wirtschaftshistoriker Albrecht Ritschl von der London School of Economics im Gespräch erklärt.

Er unterscheidet mehrere Phasen der Industrialisierung: In einer ersten Phase, der sogenannten Protoindustrialisierung, seien Manufakturen wie Metall- und Hammerwerke unter Nutzung der Wasserkraft entlang von Wasserwegen in den deutschen Mittelgebirgen und ihren Ausläufern entstanden. Im Westen sei das etwa im Sauerland und im Bergischen Land geschehen, im Osten in Sachsen und Thüringen.

Die eigentliche Industrialisierung habe zunächst in England und im frühen 19. Jahrhundert auch in Kontinentaleuropa mit der Nutzung der Kohle begonnen. Weil der Transport von Kohle teuer gewesen sei, habe sich die Schwerindustrie dort angesiedelt, wo es Vorkommen gegeben habe: im Ruhrgebiet, im Saarland und in Oberschlesien.

Im Süden Deutschlands seien in einer nächsten Phase mit der Chemie- und der Maschinenbauindustrie andere Branchen entstanden, fährt Ritschl fort. Zwar hätte sich dank der Schiffbarmachung von Rhein und Main die Kohle (und damit Stadtgas) auch in diese Regionen transportieren lassen, doch das sei teuer gewesen. Deshalb hätten sich dort wissensbasierte Industrien mit grossen Forschungsabteilungen, hoher Wertschöpfung und relativ geringem Energiebedarf etabliert.

Unterstützt worden sei dies durch die Elektrifizierung und die Umwandlung von Wasserkraft in Strom, den man zumindest über kürzere Distanzen gut transportieren konnte. Damit seien die Mittelgebirge und der Alpenraum wieder interessant geworden.

Wo der Wind weht

In den 1950er Jahren folgte die Umstellung von Kohle auf Erdöl, das mit Pipelines von den Häfen in Triest (Italien) und Rotterdam (Niederlande) nach Ingolstadt in Bayern und Westdeutschland gelangte. Ab den 1960er Jahren kam die Kernenergie hinzu. Nach den Ölkrisen der 1970er und mit der Entspannungspolitik gegenüber Moskau bezog Deutschland vermehrt billiges russisches Pipeline-Gas.

Die in den vergangenen Jahren eingeleitete neuerliche Energiewende spielt Norddeutschland auf den ersten Blick tatsächlich in die Hände. Die dortigen Bundesländer punkten mit einem hohen Angebot von Windkraft. Demgegenüber gibt es im Süden Deutschlands ein vergleichsweise hohes Angebot an installierter PV-Leistung, also an Sonnenenergie. Doch diese spielt für die Industrie unter anderem wegen der enormen Tag-Nacht-Schwankungen keine wichtige Rolle.

Die grossen Windparks auf See und an Land generieren erhebliche Mengen an Energie, die angesichts der bisher eher dünnen Industrialisierung oft überreichlich vorhanden ist. Bei starkem Wind müssen die Anlagen zeitweise sogar abgeriegelt werden, zumal die Kapazitäten der Leitungen in die industriellen Zentren im Süden und Westen Deutschlands noch immer sehr begrenzt sind. Unter dem derzeitigen System werden die Windparks dann dafür bezahlt, dass sie nicht produzieren.

Dennoch ist der in Frankfurt lehrende Ökonom und ehemalige «Wirtschaftsweise» Volker Wieland im Hinblick auf eine baldige industrielle Blüte in Norddeutschland eher pessimistisch. Es sei zwar richtig, dass die Nutzung und Verarbeitung von Energie oft dort erfolge, wo sie gewonnen werde. Die Verlagerung erfolge aber nur, wenn die Energie bei der Produktion und der Standortwahl der absolut dominierende Faktor sei, wie beispielsweise die Stromkosten beim Bitcoin-Mining.

Subventionen mit Rückschlägen

Für Unternehmen gibt es in der Praxis jedoch meist mehrere, oft ähnlich wichtige Gründe für die Wahl eines Produktionsorts. Dazu gehören ganz allgemein neben dem Angebot an «sauberer» Energie zum Beispiel die Verfügbarkeit von Arbeits- und Fachkräften sowie Bauflächen, der Anschluss an Verkehrsinfrastrukturen auf Strasse und Schiene oder IT-Services wie Hochgeschwindigkeits-Breitbandverbindungen.

Bei den spektakulären industriellen Neuansiedlungen der vergangenen Jahre, etwa der Tesla-Fabrik vor den Toren Berlins oder der Chip-Werke in Ostdeutschland, hat das Angebot erneuerbarer Energien nach Ansicht von Wieland nicht die Hauptrolle gespielt. Für Tesla seien auch die Verfügbarkeit von Arbeitskräften und Flächen, die Nähe zur Hauptstadt sowie schnelle Genehmigungsverfahren bedeutend gewesen.

Und bei den Chip-Fabriken hätten hohe Subventionen eine wichtige Rolle gespielt. Das vorläufige Scheitern der Halbleiter-Projekte von Intel in Magdeburg und von Wolfspeed im Saarland zeige exemplarisch, dass die Regierung vor allem schwache Unternehmen angelockt habe, die primär auf die versprochenen Subventionen geschielt hätten.

Subventionen haben auch bei einem der bisher prominentesten Standortentscheide für den Norden eine wichtige Rolle gespielt. Bei diesem hat das Unternehmen Northvolt explizit auf die Nutzung der dortigen Windenergie verwiesen: Die schwedische Energiefirma will in Heide im Bundesland Schleswig-Holstein eine Batteriezellenfabrik errichten, die rund 3000 Mitarbeiter beschäftigen soll. Seit März wird gebaut, doch hängt derzeit auch die Zukunft dieses Vorzeigeprojekts in der Schwebe, solange das von der schwedischen Muttergesellschaft im November eingeleitete Sanierungs- und Gläubigerschutzverfahren in den USA nicht abgeschlossen ist.

Abwanderung droht

Wieland ist überzeugt: «Die grosse Geschichte ist nicht die Verlagerung des industriellen Schwerpunkts von Süd- nach Norddeutschland, sondern die meist endgültige Abwanderung der Industrie aus Deutschland.» Das betreffe vor allem energieintensive Branchen wie die Chemie, die Metallerzeugung oder die Glas- und Keramikproduktion.

Dem schliesst sich auch der Wirtschaftshistoriker Ritschl an: «Die Industrie wandert weder nach Süden noch nach Norden, sondern ab.» Er verweist auf den in der Industrie teilweise schlechten Ruf der erneuerbaren Energien, Stichworte Flatterstrom und Dunkelflauten. Damit ist gemeint, dass der Wind nicht immer weht und die Sonne nicht immer scheint, die Industrie jedoch durchgehend verlässlich Strom benötigt. Seit dem Ukraine-Krieg sehe man einen beschleunigten Abbau besonders der energieintensiven Industrien in Deutschland: «Alle drängen zum Ausgang.»

Auch die Statistik deutet auf Probleme bei den energieintensiven Industrien hin. Die Produktion der deutschen Industrie insgesamt ist seit 2018 leicht rückläufig, jene der energieintensiven Industrien ist mit dem russischen Angriff auf die Ukraine und der dadurch ausgelösten Energiekrise sogar regelrecht eingebrochen. Durch die Entspannung bei den Energiepreisen im Jahr 2023 hat sie sich nur teilweise erholt.

Energie ist in Deutschland im internationalen Vergleich noch immer teuer. Wer als Grossverbraucher derzeit in den USA eine Investition tätige, erhalte einen Strompreis von 5 Cent, in Deutschland lägen die niedrigsten Preise für Grossverbraucher bei etwa 14 Cent, sagt Alexander Anders, Geschäftsführer der IHK Nord, eines Zusammenschlusses von dreizehn Industrie- und Handelskammern aus fünf norddeutschen Bundesländern. Das führe zwar nicht gleich zur Abwanderung von Unternehmen, aber es beeinflusse ihre Investitionsentscheide. Sie würden ihre nächste Investition dann vielleicht nicht in Deutschland und auch nicht in Norddeutschland tätigen, sondern in den USA.

«Deutschland hatte früher einen guten Verbund mehrerer Energiequellen, nämlich Kohle, Gas, Erdöl und Kernkraft», sagt Ritschl. Der Fehler sei die zu interventionsfreudige Wirtschaftspolitik mit der Beschleunigung des anstehenden energiepolitischen Strukturwandels gewesen. «Die Abkehr von der Kohle war klimapolitisch richtig, doch die voreilige Abschaltung bestehender Kernkraftwerke war eine Eselei», fährt Ritschl fort. «Jetzt ist es Zeit, den Panik-Knopf zu drücken.»

Wieland plädiert ebenfalls für eine Diversifikation der Energiequellen, beispielsweise durch alte und neue Technologien bei der Kernkraft oder die Aufhebung des Fracking-Verbots. Deutschland müsse grundsätzlich die Verfügbarkeit von Energie erhöhen. Das würde auch dazu beitragen, bestimmte Industrien im Land zu halten – neben anderen Faktoren wie beispielsweise dem Bürokratieabbau und niedrigeren Steuern.

Braucht es regionale Strompreise?

Sollte Norddeutschland also die Hoffnungen auf einen Industrieboom begraben? Vermutlich ja. Auch beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) sieht man seit Jahren eine schleichende Deindustrialisierung in Deutschland. «Rund 20 Prozent der industriellen Wertschöpfung sind im Feuer», sagt Carsten Rolle, der Abteilungsleiter Energie- und Klimapolitik. Darin eingerechnet seien auch die Autokonzerne und ihre Zulieferer.

Was dem Standort Norddeutschland helfen könnte, wäre unter anderem eine Regionalisierung der Strompreise. Bis anhin gilt in Deutschland ein Einheitspreis, unabhängig von den lokalen Produktionskosten und der Verfügbarkeit. Marktbasierte regionale Strompreise würden Knappheitssignale senden und die wahren Herstellungskosten aufdecken. Darauf könnten Anbieter schliesslich mit Investitionen und Innovation reagieren.

Die Umstellung auf regional differenzierte Preise ist politisch allerdings äusserst schwierig, da süddeutsche Bundesländer steigende Strompreise und dadurch Standortnachteile befürchten.

Standort für Energiecluster

Unabhängig vom Design des Strommarkts könnte der Norden jedoch von der Ansiedelung von Elektrolyseanlagen und Stromspeicherkapazitäten in der Nähe von Windparks und Häfen profitieren. Zum einen liesse sich in Zeiten mit viel Wind und wenig Stromnachfrage mit überschüssigem Windstrom grüner Wasserstoff erzeugen, den die Industrie in grossen Mengen brauchen wird. Zum andern eignen sich die Häfen für den in absehbarer Zeit nötigen Import von Wasserstoffderivaten.

Hier sieht Rolle einiges Potenzial für eine steigende Wertschöpfung, allerdings werden durch derartige Anlagen voraussichtlich nicht sehr viele Arbeitsplätze geschaffen. Alexander Anders von der IHK Nord beobachtet zudem einiges Interesse von Startups im Bereich Energiespeicherung und Wasserstoff in der Region.

Wenigstens in diesem Bereich könnte sich also ein regionales Cluster bilden. Dann würde – zumindest im vergleichsweise kleinen Stil – die Industrie doch wieder der Energie folgen.

Sie können dem Berliner Wirtschaftskorrespondenten René Höltschi auf den Plattformen X und Linkedin folgen. Den Frankfurter Wirtschaftskorrespondenten Michael Rasch finden Sie auf X, Linkedin und Xing.

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