Freitag, September 20

Die EU hinkt den USA und China wirtschaftlich hinterher. Kommissionspräsidentin von der Leyen will mit Industriepolitik gegensteuern, doch dafür fehlen die Voraussetzungen. Die EU hat andere Pluspunkte.

Europa musste es ökonomisch zuerst schlechtgehen, bevor EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen die Wirtschaft als wichtiges politisches Gebiet erkannt hat. Nicht mehr die globale Erwärmung sei in der nächsten fünfjährigen Legislatur das Topthema, sagte sie, als sie diese Woche die Kommission mit ihren 27 Mitgliedern vorstellte. Erstrangig sei nun die Wettbewerbsfähigkeit des Kontinents – dies neben der Verteidigung.

Ökonomen und Unternehmer beklagen seit einiger Zeit, dass die EU von China und den USA abgehängt werde. Dabei verweisen sie auf das niedrigere Wirtschaftswachstum und die Gefahr der Deindustrialisierung aufgrund hoher Energiepreise und ausufernder Bürokratie. Die grosse Frage ist daher: Was will die Kommission dagegen unternehmen? Mehr Wettbewerb und auf diese Weise den Binnenmarkt stärken oder mehr industriepolitische Gestaltung von Brüssel aus?

Investitionen kann man nicht erzwingen

Von der Leyen will beide Hebel nutzen, wobei der zweite in ihren Reden auffallend viel Gewicht bekommen hat. Alle Mitglieder der Kommission haben von der EU-Präsidentin diese Woche je einen mehrseitigen «Mission Letter» erhalten, in dem festgehalten ist, was sie von ihnen erwartet.

Die Ziele sind so breit gefächert, dass es schwierig sein dürfte, alle zu erreichen. In den Dokumenten schwingt zudem viel Pathos mit, und bei der Lektüre hat man immer wieder den Eindruck, als redeten Unternehmensberater – so technokratisch ist die Ausdrucksweise. Vom «Green Deal», dem wichtigsten Projekt von von der Leyens erster Amtszeit, das etwas in Verruf geraten ist, ist kaum mehr die Rede; dafür viel vom «Clean Industrial Deal». Mehr denn je hat die EU-Kommission eine industriepolitische Agenda.

Wegbereiter für diese Position ist zumindest teilweise der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi. Vor zwei Wochen hat er einen Bericht dazu publiziert, wie man der Wirtschaft der EU wieder mehr Schwung verleihen könnte.

So sollen der Staatenbund und Anleger jährlich 750 bis 800 Milliarden Euro in die Wirtschaft investieren, um Europa innovativer und wettbewerbsfähiger zu machen. «Investitionen kann man aber nicht erzwingen», sagt Henning Vöpel, der Direktor des Centrums für Europäische Politik (CEP) in Freiburg im Breisgau, im Gespräch dazu. Vielmehr resultieren sie aus der Zuversicht von Unternehmern und Konsumenten sowie technologischer Führerschaft. Für Vöpel kommt im Draghi-Bericht und in von der Leyens «Mission Letters» ein zu politisches und ein zu wenig unternehmerisches Verständnis von Wirtschaft zum Ausdruck.

Der EU und den Ländern fehlt das Geld für Projekte

Zweifelhaft scheint aber ohnehin, ob es der Kommission gelingen wird, aufwendige europäische Projekte zu initiieren. Dafür fehlt erstens das Geld. Um zu investieren, müsste die EU wohl Mittel aus der Landwirtschaft und der Regionalförderung abziehen, die immerhin zwei Drittel des EU-Budgets verschlingen. Wer jedoch bei der Agrarwirtschaft spart, bekommt es mit den Bauern zu tun, und wer die Regionalhilfe kürzt, legt sich mit den Osteuropäern an – das will sich kaum ein EU-Politiker antun.

Gleichzeitig wird die EU von ihren Mitgliedern nicht mehr Geld bekommen, eher im Gegenteil. Die meisten Staaten sind selbst knapp bei Kasse, und gegen sieben, unter ihnen Frankreich, Italien und Belgien, hat die Kommission sogar Defizitverfahren eröffnet. Diese dürften in der EU im Herbst zu heftigen Konflikten führen. Frankreich und Belgien haben jedenfalls bereits erklärt, dass sie nicht in der Lage seien, ihre Budgetpläne der Kommission rechtzeitig zu übermitteln.

Zweitens werden sich die EU-Staaten kaum je einig werden, welche industriepolitischen Vorhaben sie verfolgen wollen. Zu unterschiedlich sind ihre Ansichten, wie man mit Schlüsselindustrien umgehen soll. Einige Mitgliedsländer wie Italien und Frankreich sind beispielsweise für höhere Zölle auf chinesische E-Autos, wie das die Kommission im Sommer vorgeschlagen hat; andere wie Deutschland wollen davon absehen. Aus ihrer Sicht braucht die europäische Autoindustrie keinen Schutz durch Zölle.

Wenig Einigkeit herrscht unter den Ländern auch in der Energiepolitik, etwa in der Frage, wie stark man auf die Nuklearenergie setzen soll. Verschieden sind die Ansichten schliesslich bei der Verteidigungsindustrie, welche die Kommission und die Mitglieder forcieren wollen. Der Dissens ist eine Folge der Bevorzugung nationaler Produzenten, aber auch von unterschiedlichen militärischen Vorstellungen.

Der Binnenmarkt wird vernachlässigt

Von der Leyen mag Europas Einheit beschwören, doch die Mitgliedsländer sind heterogener, als viele in Brüssel glauben wollen. Zudem hat es in der EU jüngst einen Trend der Renationalisierung gegeben.

Immer mehr Geld und Industriepolitik sind daher nicht die Lösung. Stattdessen wäre es naheliegend, wenn die EU den Binnenmarkt weiterentwickelte. Denn es ist paradox: Draghi beklagte in seinem Bericht etwa, dass viele Startups ihren Sitz in die USA verschöben. Es zieht sie in einen grossen Markt, der mit der Chance lockt, das Geschäft zu skalieren. Allerdings leben in der EU 100 Millionen Menschen mehr als in den USA, der Markt ist also grösser. Bloss gibt es in der EU noch viele Barrieren – und das wiederum ist ein Hinweis darauf, wie viel die EU gewänne, wenn sie den Binnenmarkt vertiefte.

Zu wenig Wettbewerb

Dieser ist die bedeutendste wirtschaftliche Errungenschaft der EU, aber er ist nur Stückwerk. Kleine Firmen beklagen sich etwa darüber, wie aufwendig es nur schon sei, die Löhne der Angestellten von einem Land in ein anderes zu überweisen.

Auch von einer Kapitalmarktunion reden EU-Vertreter oft und gerne; in Wirklichkeit ist der Staatenbund davon weit entfernt. Gewerkschafter und Politiker reagierten jüngst mit Unmut, als die italienische Grossbank Unicredit einen Anteil von 9 Prozent an der deutschen Commerzbank übernahm – dabei wären solche grenzüberschreitenden Transaktionen die Voraussetzung für einen europaweiten Kapitalmarkt.

Fragmentiert ist auch der Markt für Telekomdienstleistungen. Wer beispielsweise in Frankreich wohnt, kann mit einem ausländischen Anbieter keinen Handyvertrag abschliessen. Dabei würden gerade solche Dienstleistungen über nationale Grenzen hinweg den Binnenmarkt stärken. Henning Vöpel vom CEP sagt: «Mehr Wettbewerb nach innen, das sollte für die EU eine unbedingte politische Aufgabe sein.»

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