Anschläge und Entführungen haben in Belgien ein bedrohliches Ausmass angenommen. Die nationale Drogenkommissarin über bedrohte Anwälte, Angriffe auf Zöllner und die Frage nach dem Narco-Staat.
Im Februar 2023 hat Ine Van Wymersch einen Job angetreten, den es zuvor noch gar nicht gegeben hatte: das Amt der nationalen Drogenkommissarin Belgiens. Damit reagierte das Land auf die grassierende Unterwanderung durch Drogenbanden. Ine Van Wymerschs Job ist somit auch ein Zugeständnis der Regierung an eine Realität, die man lange ignoriert hat.
Das Problem heisst Kokain.
Pro Jahr schmuggeln Kartelle bis zu tausend Tonnen der Droge ins Land. Dies entspricht einem Umsatz von 50 Milliarden Euro. Es ist ein Geschäft mit einschneidenden Folgen für die Gesellschaft: In Belgien häufen sich Entführungen, Folter, aber auch Explosionen und Schüsse in Wohnvierteln. Als erste nationale Drogenkommissarin des Landes soll Ine Van Wymersch nun verhindern, dass Belgien zum Narco-Staat wird.
Frau Van Wymersch, in Belgien beschiessen Drogenbanden Häuser, zünden Handgranaten, entführen und foltern Menschen. Und das im Herzen der EU. Wie konnte es so weit kommen?
In Antwerpen befindet sich der zweitgrösste Hafen Europas. Und überall, wo es ein erfolgreiches Logistikzentrum gibt, gibt es eine Schattenwirtschaft. Deshalb ist Belgien so attraktiv für Kriminelle. Die Drogenbosse sind echte Geschäftsmänner, sie agieren und denken wirtschaftlich. Sie sind darin so professionell, dass es manchmal schwierig ist, legal von illegal zu unterscheiden. Das macht es besonders schwierig, sie zu bekämpfen.
Wie meinen Sie das?
Die Kartelle investieren ihr schmutziges Geld, das sie mit dem Drogenhandel verdienen, in legale Geschäftszweige, in den Immobiliensektor etwa oder in Luxusprodukte wie Diamanten. Die Trennung von legaler und illegaler Welt ist damit nicht mehr so klar wie früher.
Der Hafen ist wohl kaum der einzige Grund, weshalb Belgien derartige Probleme mit Drogenbanden hat.
Nein, Belgien hat historisch eine enge Beziehung zu Afrika. Der Kontinent ist zentral beim Schmuggeln von Drogen, denn er dient als Zwischenstation, als Drehscheibe zwischen Lateinamerika und Europa. Zudem gibt es gute Verbindungen zu den Balkanstaaten, zu Albanien im Besonderen. Auch die marokkanische Diaspora spielt eine wichtige Rolle. Mit den dortigen kriminellen Gruppierungen gibt es eine intensive Zusammenarbeit. Man könnte deren Arbeit als Verbrechensdienstleistung bezeichnen. Alle wollen so viel Geld wie möglich machen. Das geht nur, wenn sie international eng zusammenarbeiten.
Von der Jugendrichterin zur obersten Drogenkommissarin
scf. · Die 44-jährige Juristin Ine Van Wymersch hat eine steile Karriere hingelegt: Nach dem Abschluss ihres Jus-Studiums arbeitete sie als Jugendrichterin bei der Staatsanwaltschaft Brüssel. Nach den Terroranschlägen 2016 in Brüssel wurde sie erstmals einer breiten Öffentlichkeit bekannt – als Sprecherin der Opfer. 2019 wurde sie zur jüngsten Staatsanwältin des Landes, bis sie schliesslich 2023 zur ersten nationalen Drogenkommissarin Belgiens ernannt wurde. In dieser Position koordiniert sie den Kampf verschiedener Behörden gegen die Drogenkriminalität.
Eine Verbrechensdienstleistung? Wie sieht das konkret aus?
Wenn ein Krimineller beispielsweise in Brüssel eine Cannabisplantage eröffnen will, dann geht er zu albanischen Gruppierungen. Zusammen schauen sie sich nach einem geeigneten Ort um. Der künftige Plantagenbesitzer bezahlt für diese Leistung einen festgelegten Preis. Wie gesagt, es ist eine gewöhnliche Dienstleistung, einfach in einer illegalen Branche.
Die Drogenbarone sind also keine europäischen Pablo Escobars, die ihre Organisation wie Diktatoren straff hierarchisch führen?
Nein, es gab hier einen Paradigmenwechsel. Die europäischen Kokainbosse sind keine Paten mehr, sondern Geschäftsleute. Gegeneinander Krieg zu führen, würde bloss dem Geschäft schaden.
Und dennoch kommt es immer wieder zu Explosionen in Wohnvierteln von Antwerpen. Wie geht das zusammen?
Dass die Bosse zusammenarbeiten, heisst nicht, dass es keine Gewalt gibt. Im Sommer letzten Jahres explodierten fast täglich Sprengsätze vor Häusern. Meist gehörten diese Familien, die ins Drogengeschäft involviert sind und wo es durchaus Rivalitäten gibt. Nun ist es etwas ruhiger geworden. Dennoch existiert das Phänomen weiterhin. Diese Anschläge können mehrere Ziele haben: Drogenbanden wollen damit entweder die Aufmerksamkeit der Polizei auf ein bestimmtes Haus oder eine bestimmte Familie lenken. Oder sie wollen die Familie, die dort lebt, einschüchtern.
Immer häufiger soll es auch zu Entführungen innerhalb des Drogenmilieus kommen.
Das sehen wir bereits seit drei oder vier Jahren, ja. Diese Kidnappings stellen eine grosse Belastung für Polizei und Staatsanwaltschaft dar. Das sind schwere und komplexe juristische Fällen, die umfangreiche Ermittlungen erfordern. Das belastet die Kapazitäten von Polizei, Staatsanwaltschaft und Richtern.
Wenn es um den Drogenkrieg in Europa geht, werden zuallererst die Niederlande genannt – mit Morden, Entführungen und Folterkammern in Containern. Wie weit ist man in Belgien von solchen Zuständen entfernt?
Was heute in den Niederlanden passiert, wird in fünf Jahren in Belgien passieren. Da dürfen wir uns keine Illusionen machen.
Was heisst das konkret?
Wenn wir zurückblicken, können wir einige Parallelen erkennen: Mordanschläge auf Anwälte oder Journalisten wie den Niederländer Peter R. de Vries hat es bisher nicht gegeben. Aber auch bei uns gab es Drohungen gegen Politiker, Anwälte oder Journalisten. Zudem gibt es eine Menge niederländischer Jugendlicher, die hier Straftaten begehen. Das Ausmass ist jedoch noch nicht auf demselben Niveau wie in den Niederlanden. Dennoch wäre es naiv, zu sagen, es werde nie dazu kommen.
Besonders exponiert sind die Hafenarbeiter. Sie sind zentral für die Drogenmafia.
Ja, das ist ein grosses Problem. Im Moment ist es für Drogenkriminelle zu einfach, an jemanden heranzukommen, der einen Container mit Kokain von einem Ort zum anderen bewegen kann. Die Mafia bietet Hafenarbeitern viel Geld dafür. Wer nicht mitmacht, wird bedroht.
Wie wollen Sie das ändern?
Wir müssen Hafenarbeiter so weit bringen, dass sie zu den Behörden gehen. Dass sie auch zu uns kommen können, selbst wenn sie bereits für die Kartelle Container mit Drogen am Zoll vorbeigeschmuggelt haben. Es muss eine Möglichkeit geben, sie zu beschützen. Denn wenn wir nichts unternehmen, landen diese Menschen in einem kriminellen Netzwerk – und kommen da nicht mehr raus.
Auch Zöllner wurden bedroht und angegriffen – vor allem, nachdem sie grosse Mengen von Kokain beschlagnahmt hatten. Sogar das Militär musste am Hafen von Antwerpen eingreifen.
Ja, wir hatten letztes Jahr ernsthafte Sicherheitsprobleme bei der Lagerung von sichergestelltem Kokain. Die Kriminellen griffen unsere Transporte an. Damals gab es noch keinen geregelten Umgang damit. Nun haben wir die Polizei besser ausgerüstet. Trotzdem: Es kann sich immer weiter hochschaukeln.
Was tun Sie dagegen?
Wir verfügen schon jetzt über eine fortschrittliche Gesetzgebung und eine gute Überwachung des Hafens. Zudem möchte ich das Kokain bereits während der Beschlagnahmung unschädlich machen. Im Prinzip so, wie wenn Bargeld bei einem Bankraub mit Farbe besprüht wird. Mit einer chemischen Methode soll das Kokain wertlos gemacht werden. Dadurch würden die Sicherheitsrisiken für den Zoll stark sinken. Momentan wird erforscht, wie die Idee konkret umsetzbar ist – hoffentlich bereits nächstes Jahr. Die Rückmeldungen sind positiv. Falls das wirklich klappt, wären wir die Ersten, die das machen.
Die meisten Betroffenen von Entführungen, Anschlägen oder Morden sind selbst ins Drogengeschäft verwickelt. Aussenstehende mögen denken: selbst schuld. Warum lassen die sich auch auf die Kartelle ein?
Das Problem geht weit über die drogenbedingte Gewalt hinaus. Wir müssen einen Weg finden, wie wir als Gesellschaft mit dem Konsum umgehen. Eine Kriminalisierung der Konsumenten bringt uns nicht weiter. Wir haben die Aufgabe, jenen zu helfen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Wir dürfen sie nicht dem unkontrollierten Kokainmissbrauch überlassen.
Derzeit ist Kokain Belgiens grösstes Drogenproblem. Doch wie sieht die Zukunft aus? Droht eine Fentanyl-Welle wie in den USA?
Die Frage lautet nicht, ob sich Fentanyl auch in Europa verbreitet, sondern wann. Die ganze Lieferkette ist wegen des Kokains bereits vorhanden. Die Drogenkriminellen haben herausgefunden, dass sie noch mehr Geld machen können, wenn sie auch Fentanyl oder Nitazene, einen ähnlichen Stoff, verkaufen. Wir bereiten uns darum bereits auf eine solche Welle vor. Denn wir wollen keine Gesundheitskrise haben wie in den USA.

