Montag, November 18

Das Tessin ist seit Jahrzehnten die Wahlheimat der deutsch-schweizerischen Künstlerin. Ihr schillerndes Werk zwischen Malerei, Skulptur und Fotografie flackert, glimmt, lodert, strahlt und leuchtet. Nun feiert Mendrisio Ingeborg Lüscher mit einer Retrospektive.

Aufgeben ist keine Option. Nicht für Ingeborg Lüscher. Ist sie einmal von einer künstlerischen Idee gepackt, gibt es bei ihr kein Zurück. Brennend für die Sache, beharrlich bis zur Obsession: Das zeichnet sie aus. Ihre Themen sind umfassend: Autobiografische, emanzipatorische, ökologische, politische Fragestellungen werden von ihr auf immer neue Art und mit neuen Techniken beleuchtet und in Kunst umgesetzt.

Auf einem Rundgang durch das Museo d’arte in Mendrisio kann man nun Ingeborg Lüschers Werdegang verfolgen. In den Räumen flackert, glimmt, lodert, strahlt und leuchtet es. Und dazwischen wird es immer wieder einmal dunkel, schwarz und düster. Die 1936 in Sachsen geborene Künstlerin, die später ins Tessin übersiedelte, ist immer auf der Suche nach Gegensätzen: hell, dunkel, leicht, schwer, Himmel und Erde – Kontrahenten, die sich aneinander reiben, am Ende aber ins Gleichgewicht kommen und im Einklang stehen.

Ihre erste grosse Arbeit waren die «Inboxes». Mit diesen Installationen, einer Abfolge von quadratischen Glaskästen, in denen angebranntes, bemaltes Styropor reliefartig angeordnet ist, beschrieb die Künstlerin ihren Seelenzustand während der späten sechziger Jahre in Prag.

Damals hielt sich Lüscher, die ursprünglich als Schauspielerin tätig war, zu Dreharbeiten in der tschechischen Hauptstadt auf. Die politische Atmosphäre war aufgeheizt. Die Begegnung mit Menschen, die revoltierten, laut ihre Meinung sagten und dafür ins Gefängnis gingen, war für Lüscher ausschlaggebend für eine Kehrtwende: weg von Film und Theater, wo Regisseure das Sagen hatten, hin zur Kunst, wo sie selbstbestimmt sich ausdrücken konnte.

Dann im Tessin entstanden ihre bekannten «Verstummelung» genannten Werke. Schon der Titel lässt rätseln: Von Stummel über stumm bis hin zu Verstümmelung reichen die Assoziationen. Es sind Objekte, die über und über mit Zigarettenkippen überzogen sind. Mal sind die Kippen akkurat in Reih und Glied angeordnet, mal quellen sie organisch, plastisch, wie lebendig hervor. Diese Objekte stehen für konserviertes, gelebtes Leben. Dadaistisch-surreal mutet die «Schreibmaschine» (1971) an. Wo einst die Tasten sassen, ragen jetzt Zigarettenstummel bissig hervor.

Zauber mit Schwefel

An die grosse Öffentlichkeit trat Ingeborg Lüscher 1972 auf der legendären Documenta 5 in Kassel mit ihrer fotografischen Armand-Schulthess-Dokumentation «Der grösste Vogel kann nicht fliegen». Beim gemeinsamen Rundgang durch die Ausstellung in Mendrisio erzählt die vor Vitalität sprühende 88-Jährige persönlich von der Entstehung dieser Arbeit.

Beim Zuhören weiss man nicht, was faszinierender ist: die unerhörte Entschlossenheit Lüschers, mit der sie dem Einsiedler auf der Spur war. Oder die Geschichte von Armand Schulthess selbst, der in den Wäldern des Tessins sich eine Bibliothek des Wissens schuf; seine Exzerpte, gekritzelt auf Metalltäfelchen, pflegte er in die Zweige zu hängen und der Unbill der Witterung auszusetzen.

Als Fotografin forderte Lüscher auch immer wieder die Interaktion ihres Gegenübers ein. So etwa bei den «Zauberfotos», die ab 1976 entstanden. Menschen aus ihrem Umkreis, viele von ihnen Künstler, unter ihnen Andy Warhol, Ai Weiwei oder Pipilotti Rist, wurden von Lüscher gebeten, für sie zu zaubern, was immer dies für sie in diesem Augenblick bedeutete. Entstanden sind Porträtreihen voller Esprit und zarter Poesie.

Den Zauber des Gelbs von Schwefel als künstlerisches Mittel entdeckte Lüscher in den späten achtziger Jahren. Es entstanden Kleinobjekte, die über und über mit Schwefelpulver überzogen sind. In Mendrisio ruht eine Auswahl dieser Objekte auf Sockeln wie kostbare Juwelen. Sie muten wie Fundstücke an, als wollten sie uns sagen: Jedem Ding wohnt ein Leuchten inne.

Diffuses, lichtes Gelb schwebt über pastosem undurchdringlichem Schwarz in dem imposanten Gemäldezyklus aus den neunziger Jahren: abstrakte Malerei, reduziert auf zwei Farben. Die stimmige Farbzusammenstellung in Ton und Dichte erforderte von der Künstlerin einen langen Prozess des Suchens und Experimentierens.

Nahostkonflikt

Offen und sensibel stellt sich Lüscher auch dem Zeitgeschehen. So ist ihre Videoarbeit «Die andere Seite» 2009 und 2010 vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Israel und Palästina entstanden. Einem Triptychon gleich in Dreiersequenzen angeordnet, werden kurze Filmaufnahmen von Vertretern beider Volksgruppen gezeigt. Ob man nun einen Israeli oder einen Palästinenser sieht, weiss man nicht, und es tut auch nichts zur Sache.

Konfrontiert wurden die Protagonisten jeweils mit der Aufforderung, über folgende Fragestellungen nachzudenken: «Wer bist du (dein Name, deine Herkunft)?», «Was hat jener von der anderen Seite dir angetan?», «Kannst du verzeihen?». Während des ganzen Drehs fällt nicht ein einziges Wort. Es braucht keine Stimme, das Zucken um die Mundwinkel, das Zusammenpressen der Lippen, der sich verschattende Blick sprechen für sich. Diese Arbeit könnte heute mit dem erneuten Ausbruch des Nahostkonflikts aktueller kaum sein.

Als Liebeserklärung an den visionären Ausstellungsmacher Harald Szeemann mag man die überdimensionierte «Tarnkappe» (1998) sehen. Ingeborg Lüscher, die ab den siebziger Jahren mit Szeemann bis zu seinem Tod 2005 eine Lebensgemeinschaft führte, schuf dieses imposante wie skurrile Kostüm, gefertigt aus Jute und getrockneten Palmwedeln, angeblich, um den berühmten Kurator vor aufdringlichen Blicken in der Öffentlichkeit zu schützen.

Für Ingeborg Lüscher gibt es keine Grenzen zwischen Kunst und Leben. Das wird auch deutlich an ihrer fulminanten, lebensbejahenden Installation ganz am Ende der Schau. Da öffnet sich ein Rundbogen zu einem kleinen Saal, in dem einem sattes Gelb in voluminösen Kaskaden entgegenströmt. Die Rauminstallation «Hängende Gärten der Semiramis» (1999–2024) ist eine Hommage an das sich immer wieder erneuernde Leben und an die nie versiegende Kreativität künstlerischen Schaffens.

«Ingeborg Lüscher. Il cielo ancorato alla terra», Museo d’arte, Mendrisio, bis 19. Januar 2025. Katalog Fr. 30.–.

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