Nach einer Fahrt auf einem Wanderweg klingelt bei einem 49-Jährigen die Polizei – und er landet vor Gericht.
Der Wanderweg am Rheinufer bei Rheinau ist schmal und mit einem Fahrverbot belegt. Für die Prozessbeobachter im Saal des Bezirksgerichts Andelfingen wird bei der Befragung eines 49-jährigen beschuldigten Schweizers nicht wirklich nachvollziehbar, was er dort am 1. April 2023 nachts um 2 Uhr 30 genau wollte.
Der Niederlassungsleiter eines Logistikunternehmens, der im Kanton Schaffhausen wohnt, war zuvor in Zürich im Ausgang gewesen und soll dabei zwischen etwa 21 Uhr 30 und Mitternacht gemäss eigenen Angaben in einer Bar Bier getrunken haben. Vor dem Ausgang habe er bei sich zu Hause in seiner Mikrowelle mehrere Tage alte Spaghetti aufgewärmt, führt sein Verteidiger aus. Davon sei ihm wohl schlecht geworden.
Gemäss der Anklage, die auf den Aussagen des Beschuldigten beruht, ist er auf der Rückfahrt gegen 2 Uhr 30 «urplötzlich» von heftigen Magenkrämpfen geplagt worden. Er habe dringend auf die Toilette gemusst. Deshalb sei er in Rheinau in einen Feldweg eingebogen. Unumwunden räumt der 49-Jährige im Gerichtssaal ein, dass er dabei das Fahrverbot willentlich missachtet habe.
«Ich habe ein WC gesucht und keines gefunden», erklärt der Beschuldigte. Weshalb er denn nicht einfach zuvor auf der Autobahnraststätte Kemptthal oder beim Rastplatz Chrüzplatz der A 4 die Toilette aufgesucht habe, fragt der Einzelrichter nach. Die Antwort: «Mir ist sehr schnell, sehr plötzlich unwohl geworden.»
Erst Magenkrämpfe, dann eine Flasche Rosé
Weil er sich durch zwei herumlungernde Jugendliche gestört gefühlt habe, sei er noch weitergefahren, als der Feldweg in einen unbefestigten Wanderweg gemündet sei. Gemäss Anklage war der Weg «erkennbar nicht für das Befahren mit Personenwagen bestimmt und geeignet». Nach weiteren 200 Metern Fahrt blieb das Auto auf dem immer schmaler werdenden, durch den Regen aufgeweichten Rheinuferweg stecken.
Der Mann erbrach sich im Auto. Danach habe er sich sogleich wieder besser gefühlt. Er habe versucht, rückwärts- und vorwärtszufahren. Das sei aber nicht mehr gegangen. Die Räder hätten sich im sumpfigen Kiesweg eingegraben. Er sei ausgestiegen, habe keinen Schaden festgestellt und sich dann gedacht, er lasse das Auto stehen, um später bei Tageslicht zurückzukehren und die Sache genauer anzuschauen. Er habe keine Sekunde daran gedacht, sich bei jemandem zu melden. Für ihn sei es einfach eine Panne gewesen.
Der Mann fuhr mit einem Nachtbus und der S-Bahn nach Hause. Dort habe er um 4 Uhr morgens eine 7-Deziliter-Flasche Roséwein getrunken. Es sei für ihn eine spezielle Situation gewesen, die er habe verarbeiten müssen, begründet er und wehrt sich: Es habe sich sicher nicht um einen Nachtrunk gehandelt. Er habe sicher nichts verschleiern wollen.
Am Morgen um 10 Uhr 30 klingelte die Polizei an der Wohnungstür. Eine Blutprobe wurde aufgrund des nicht mehr als aussagekräftig zu erwartenden Resultats nicht angeordnet. Das Auto, das unmittelbar an der steilen Rheinuferböschung stand, musste über ein Wiesenbord mit einer Seilwinde geborgen werden.
Bei der Befragung zur Person stellt sich heraus, dass dem 49-Jährigen seit 2004 insgesamt acht Mal der Führerausweis wegen Angetrunkenheit, Geschwindigkeitsübertretungen oder nicht betriebssicherer Fahrzeuge entzogen worden ist; jeweils für eine Dauer von zwischen einem und sechs Monaten. Total 23 Monate in rund zwanzig Jahren. Zudem geriet er im November 2023 erneut mit einem zu hohen Alkoholpegel in eine Polizeikontrolle, ein neues Strafverfahren ist deswegen hängig.
Bestand eine Meldepflicht oder nicht?
Der Staatsanwalt beantragt eine Verurteilung wegen vorsätzlicher Vereitelung von Massnahmen zur Feststellung der Fahrunfähigkeit, pflichtwidrigen Verhaltens bei einem Unfall und Missachtung des Fahrverbots. Aufgrund des fahrerischen Leumunds und einer Vorstrafe aus dem Jahr 2016 sei eine Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 100 Franken (also 5000 Franken) zu vollziehen. Zudem sei eine Busse von 200 Franken zu verhängen.
Der Verteidiger plädiert, der Beschuldigte sei nur wegen Missachtung des Fahrverbots mit einer Busse von 130 Franken zu bestrafen und von den übrigen Vorwürfen freizusprechen. Es habe sich nur um eine Panne und nicht um einen Unfall gehandelt. Es sei kein Schaden entstanden und keine Flüssigkeit ausgelaufen. Eine Meldepflicht habe nicht bestanden.
Das sieht der Einzelrichter schliesslich anders: Er verurteilt den Beschuldigten zu einer Geldstrafe von 50 Tagessätzen à 100 Franken und 150 Franken Busse. Die Geldstrafe schiebt er allerdings bei einer Probezeit von 4 Jahren nochmals bedingt auf. Zudem muss der Verurteilte 2000 Franken Untersuchungs- und Gerichtskosten bezahlen.
Die entscheidende Frage, ob für den Beschuldigten eine Meldepflicht bestanden habe, bejaht der Einzelrichter. Es sei durch das Eingraben der Räder im sumpfigen Kiesbett eine Beschädigung des Wegs entstanden, die nicht einfach durch natürliche Regeneration wieder geheilt worden sei. Eine Meldepflicht falle nur weg, wenn zweifelsfrei ausgeschlossen werden könne, dass kein Schaden entstanden sei. Dies sei hier nicht der Fall gewesen.
Zudem spiele in diesem Fall auch das subjektive Wissen des Beschuldigten eine Rolle, der lebenslange, einschlägige Erfahrung mit dem Strassenverkehrsgesetz habe. Die Situation am Rheinuferweg wäre für die Polizei ein klarer Fall für die Anordnung einer Blutprobe gewesen.
Aufgrund der «flankierenden, objektiven Umstände» müsse man zu dem Schluss kommen, dass der Beschuldigte eine Verletzung der Meldepflicht zumindest in Kauf genommen habe. Dass man um 4 Uhr morgens eine Flasche Rosé trinke, nachdem man zwei Stunden zuvor unter übelsten Magenkrämpfen gelitten habe, sei ausserdem doch «ein sehr, sehr aussergewöhnliches Verhalten».
Urteil GG230011 vom 6. 2. 2024, noch nicht rechtskräftig.