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Am 9. August 1924 versinkt Innerthal im Kanton Schwyz in der Vergangenheit. Seither wurde viel über den Stausee und das Dorf geschrieben. Die Nachfahren der Betroffenen schweigen aber bis heute.
Das Wasser kommt und kommt. Mitten ins Dorf. Langsam, aber unaufhaltsam steigt es. Es flutet die Strassen, umspült die Häuser und dringt in die Keller ein.
«Ich bleibe hier, und wenn das Wasser mir bis an den Hals kommt und noch höher.» Das Erdgeschoss des Hauses stand schon komplett im Wasser. Das Haus wirkte wie eine kleine Wasserburg, die nur von einem einzigen altgedienten Soldaten verteidigt wurde. Der Mann sagte: «Dänn värsuuff iäch halt. Isch miär au nu grad rächt.»
Der Autor Beat Hüppin schreibt in seinem historischen Roman «Talwasser» über das Schicksal der Bewohner der Gemeinde Innerthal im Wägital im Kanton Schwyz, die vor hundert Jahren ihre Heimat aufgeben mussten für einen Stausee. Innerthal wurde geflutet und ertränkt, weil der Strombedarf in der Schweiz immer grösser wurde. Das Dorf ist Teil der Schweizer Energiegeschichte geworden und ist bis heute auch ein Ort der Trauer.
«Die Geschichte von Innerthal ist noch immer ein Reizthema», sagt Guido Hangartner, Pfarrer des Wägitals. Er hat sich ausgiebig mit den damaligen Ereignissen beschäftigt, hat mit Leuten gesprochen, das Kirchenarchiv durchstöbert und Material gesammelt.
Die Flutung von Innerthal, sagt Pfarrer Hangartner, sei eine soziale Katastrophe gewesen. Die Folgen spüre man bis heute.
Das grösste Kraftwerk Europas
Anfang des 20. Jahrhunderts herrschen schwierige Zeiten. Der Erste Weltkrieg hat auch auf die Schweiz erhebliche Auswirkungen: Es kommt zu wirtschaftlichen Engpässen, sozialen Unruhen und politischen Spannungen. Sie entladen sich etwa 1918 im Landesstreik, dem grössten Generalstreik in der Schweizer Geschichte. Arbeiter fordern bessere Arbeitsbedingungen und politische Reformen.
Während dieser turbulenten Zeit verdoppelt sich der Stromverbrauch in der Schweiz. Besonders in Zürich wächst der Bedarf rasant. Die Stadt benötigt dringend mehr Energie und stellt sich die Frage: Woher soll der zusätzliche Strom kommen? Die Lösung liegt in den Bergen, wo hohe Gefälle und kraftvolle Wasserströme ideale Bedingungen für die Energieproduktion bieten.
Das Elektrizitätswerk der Stadt Zürich (EWZ) realisiert deshalb zwischen 1906 und 1961 vier grosse Wasserkraftprojekte in Graubünden und im Kanton Schwyz. Eines davon im Wägital. Nur vierzig Kilometer von der Stadt Zürich entfernt. Dort sollen ein Stausee entstehen und das damals grösste Kraftwerk Europas.
Doch das EWZ kann nicht eigenmächtig in anderen Kantonen Kraftwerke planen und bauen. Man muss zuvor mit den betroffenen Gemeinden und Kantonen verhandeln. Auch der Bund muss die Projekte genehmigen und sicherstellen, dass sie im Einklang mit den nationalen Interessen und Gesetzen stehen.
In der Gemeinde Innerthal wächst der Widerstand. Die Bewohnerinnen und Bewohner weigern sich, ihren Lebensraum aufzugeben. Zweimal gehen sie vor Bundesgericht. Zweimal bleiben sie erfolglos. Die Urteile verkündet der Gemeindeschreiber jeweils dem versammelten Dorf. Was er genau gesagt hat, ist nicht überliefert. Der Autor Beat Hüppin hat es in seinem Roman versucht:
«Ihr wisst es ja selber, die Begründungen der Stromherren sind immer dieselben. Unser Land braucht eine stabile und günstige Energieversorgung, damit der wirtschaftliche Aufschwung endlich kommt. Hier im Tal werden vergleichsweise wenige Personen durch das Projekt beeinträchtigt. Der Stausee nützt im ganzen Land unzähligen Menschen. Dagegen kommen wir mit unseren Argumenten zur Rettung des Tals nicht an!»
Diese Begründung steht für einen Grundkonflikt, den es immer wieder gibt: der Konflikt zwischen lokalen Interessen und übergeordneten gesellschaftlichen Bedürfnissen. In diesem Fall sind es die wenigen Innerthaler, die ihre Heimat verlassen müssen, damit die vielen Zürcher genügend Energie haben. Der gesamte Strom, der durch den neuen Stausee gewonnen werden soll, würde in die Stadt Zürich fliessen.
«Das Kleine muss sich opfern, wenn Grosses erstehen will»
Der Ingenieur des Kraftwerks argumentiert damals: «Man kann nicht nationale Elektrizitätspolitik treiben und gleichzeitig Tal-Idyllen als unberührbares Heiligtum erklären. Ohne Wunden geht es nicht . . . Das Kleine muss sich opfern, wenn Grosses erstehen will.»
Solche Argumente prägen die Schweiz zu dieser Zeit. Der steigende Energiebedarf treibt zahlreiche Infrastrukturprojekte voran. Diese entstehen oft auf Kosten lokaler Gemeinschaften und Landschaften. Weitere Beispiele sind die Stauseen Mattmark oder Grande Dixence im Wallis oder der Stausee Lago di Vogorno im Tessin für das Wasserkraftwerk Verzasca. Oder eben Wägital.
Der Beginn der Bauarbeiten ist der Anfang vom Ende für Innerthal. Das malerische Bergdorf liegt in einem engen Tal, umgeben von steilen Hängen und dichten Wäldern. Hier fahren nun die grossen Bagger und Maschinen auf. Als die Bauarbeiten für das damals grösste Kraftwerk Europas voranschreiten, berichtet auch die nationale Presse über Innerthal. Das zieht immer mehr Neugierige an. Unter ihnen auch Albert Einstein. Die Menschen wollen die eindrückliche Ingenieurkunst erleben. Aber auch: ein Dorf, das es bald nicht mehr geben wird. Voyeurismus und Faszination für das Morbide.
Den zur Schau gestellten Innerthalern bleiben derweil nur zwei Möglichkeiten für ihre Zukunft: Auswandern in die Ferne oder in der Nähe ein neues Heim suchen. Denn Innerthal und seine Kirche werden weiter oben am Hang neu aufgebaut, dort, wo das Wasser nicht hinreicht. Doch nur wenige Familien siedeln schliesslich dorthin um. Die meisten verkaufen ihren Besitz und ziehen fort.
Viele Innerthaler verpassen damit den 19. Juli 1924. An diesem Tag lässt das Elektrizitätswerk Wägital das Wasser ins Tal fliessen. Die Bewohner sehen zu, wie ihre vertrauten Gassen und Plätze unter den Wassermassen verschwinden. 336 Einheimische überlassen ihre Häuser den Fluten. Das Wasser steigt weiter, erreicht die Kirche und umspült die Mauern. Bald ist nur noch der Kirchturm zu erkennen.
Eine Boje als Mahnmal für die Kirche
Am 9. August 1924, um 14 Uhr 20, versinkt Innerthal in der Vergangenheit. Die Verantwortlichen sprengen den Kirchturm und damit das letzte Sichtbare ihres einstigen Dorfes. Niemand soll später bei niedrigem Wasserstand die Ruinen sehen können. Die Explosion hallt im ganzen Tal. Gestandene Männer weinen hemmungslos. Herkunft und Heimat verschwinden für immer im See.
Das Kraftwerk Wägital nimmt kurz darauf seinen Betrieb auf, und im Tal kehrt bald Ruhe ein. Der Stausee verändert den Tourismus in der Region stark. Die Menschen kamen zuvor ins Wägital wegen des Bade- und Kurhotels «Bad Wäggital». Dort, wo das Heilbad stand, ist jetzt aber der Stausee. Dieser zieht einige Jahre später bereits Tagestouristen oder Fischer an. Heute sind es vor allem Wanderer oder Velofahrer, die ins Wägital kommen.
Und wie schaut es mit den Altinnerthalern und ihren Nachfahren aus? Die meisten schweigen bis heute zu dem Stausee.
Pfarrer Hangartner erklärt das Schweigen durch die beiden Parteien, die sich gebildet haben: die Gewinner und die Verlierer des Stausees. Die Verlierer sind diejenigen, die umsiedeln und ihre ursprüngliche Heimat aufgeben mussten. Zu den Gewinnern zählen alle, die durch das Kraftwerk einen Job bekommen haben. Die Nachfahren der Verlierer würden bis heute nichts mit dem Kraftwerk zu tun haben wollen. Und umgekehrt. Hangartner sagt: «Hundert Jahre später verhalten sich die Gewinner und die Verlierer noch wie Hund und Katz.»
Die Kirchgemeinde Wägital hat für ihre alte versunkene Kirche ein Mahnmal errichtet. Im Stausee schwimmt an der Stelle, wo die Kirche stand, eine 1 Meter 80 grosse orange Boje.
Hundert Jahre ist es her, dass der Stausee Innerthal für immer verschluckt hat. Dieses traurige Jubiläum nimmt sich die Kirchgemeinde Wägital nun zum Anlass, an diese Tragödie zu erinnern.
Pfarrer Hangartner hält am 9. August, direkt am Seeufer, eine heilige Messe ab. Am Sonntag, 11. August, findet in der neuen Kirche von Innerthal die grosse Gedenkfeier statt. Auch Alt-Bundesrat Ueli Maurer wird vor Ort sein. Pfarrer Hangartner hat zudem die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch eingeladen. Schliesslich fliesse der gesamte Strom nach wie vor nach Zürich. Doch die Zürcher Stadtpräsidentin hat abgesagt.