Sonntag, Oktober 6

Grossbritannien bestraft Nutzer, die hetzerische Beiträge oder Falschinformationen in den sozialen Netzwerken publiziert haben. Bedroht das harte Vorgehen der Justiz die Redefreiheit im Internet?

Bis zum 29. Juli hatte Julie Sweeny in der Grafschaft Cheshire in Nordwestengland ein unauffälliges Leben geführt. Die 53-jährige Grossmutter hatte sich in den vergangenen Jahren vollzeitlich um ihren 76-jährigen Gatten gekümmert, der aufgrund einer Krankheit pflegebedürftig war. Weder war die Frau je mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, noch war sie der Allgemeinheit auf andere Weise zur Last gefallen. Und doch muss Sweeny nun für fast eineinhalb Jahre ins Gefängnis – gemeinsam mit Krawallmachern und rechtsextremen Chaoten, die sich nach dem Mordanschlag auf drei Kinder in Southport an den gewaltsamen Sommerunruhen in England beteiligt hatten.

Sweeny hatte weder einen Stein gegen die Polizei geworfen noch die Scheiben eines von Ausländern geführten Ladenlokals eingeschlagen. Zum Verhängnis wurde ihr ein Post in einer Facebook-Gruppe mit gut 5000 Mitgliedern. «Beschützt die Moschee nicht», kommentierte sie. «Jagt die Moschee in die Luft mitsamt den Erwachsenen drinnen.»

Später sollte Sweeny zugeben, dass ihr Post inakzeptabel gewesen sei. Sie habe den Kommentar aus Wut veröffentlicht und nicht beabsichtigt, Menschen wirklich zu verängstigen. Doch vor der Bestrafung schützt sie die späte Reue nicht: Der Richter verurteilte sie wegen Aufwiegelung zu Rassenhass. Bei der Urteilsverkündigung erklärte er, Sweeny habe sich entschieden, Drohungen gegen ein Gotteshaus auszusprechen, anstatt wie jede rechtschaffene Person die Geschehnisse mit Betroffenheit zu verfolgen. «Unter diesen Umständen müssen sogar Leute wie Sie ins Gefängnis gehen», sagte er an die Adresse der Straftäterin.

Strafen für «Tastatur-Krieger»

Sweeny ist kein Einzelfall. Mehr als 1000 Personen sind im Zusammenhang mit den sechstägigen Unruhen verhaftet worden, etwa die Hälfte wurde in der Folge angeklagt. Gut dreissig Personen werden Delikte im Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Inhalten in den sozialen Netzwerken zur Last gelegt.

In Leeds muss ein 28-Jähriger für zwanzig Monate hinter Gitter, weil er seinen Facebook-Freunden mitgeteilt hatte, «jeder Mann und jeder Hund» müsse zum von Asylsuchenden bewohnten Britannia-Hotel in Seacroft ziehen und dieses «in Trümmer schlagen». Sein Anwalt sagte vor Gericht, sein Mandant sei mit einem gebrochenen Fuss zu Hause gesessen und habe nie beabsichtigt, sich an Krawallen zu beteiligen. Doch der zuständige Richter betonte, auch «Tastatur-Krieger» seien für ihre Aktionen zur Rechenschaft zu ziehen.

Der Aufruf zum Rassenhass oder zur Gewalt im Internet ist in Grossbritannien seit langem strafbar. 2011, als im Londoner Migranten-Quartier Tottenham Unruhen ausbrachen, wurden zwei nicht vorbestrafte Jugendliche zu einer Gefängnisstrafe von je vier Jahren verurteilt, weil sie zu spezifischen Ausschreitungen aufriefen, die in der Folge gar nicht stattfanden. Seit diesem Präzedenzfall ahnden die britischen Richter Online-Hetze schärfer, wenn sie im Kontext von gewaltsamen Unruhen publiziert wird.

Klima der Nulltoleranz

2011 war Keir Starmer Leiter der Generalstaatsanwaltschaft. Damals mahnte er die Staatsanwälte bei der Verfolgung von Online-Hetze zur Zurückhaltung, weil er negative Folgen für die Meinungsäusserungsfreiheit befürchtete. Heute ist Starmer Premierminister. In dieser Rolle gibt er den Justizbehörden zwar keine direkten Weisungen. Doch propagierte er im Umgang mit den Unruhen ein Klima der Repression, das auch die Veröffentlichung von Online-Posts erfasst.

In Cumbria beispielsweise wurde ein 51-jähriger Mann zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt, weil er im Kontext der Unruhen drei «rassistisch aufgeladene» Memes veröffentlicht hatte. Die Online-Bilder zeigten Migrantengruppen mit asiatischem Aussehen als Invasoren oder Messerstecher und waren mit dem Satz versehen: «Sie kommen bald in eine Stadt in deiner Nähe!»

Gleich lang hinter Gitter muss ein 31-jähriger Familienvater, der auf Facebook Emojis einer dunkelhäutigen Person und einer Pistole postete. Er beteuerte vor Gericht, er habe nicht gewusst, dass die Veröffentlichung von solchen Symbolen strafbar sein könne.

Umstrittene Online Safety Act

Rechte Kommentatoren reagierten mit Entrüstung auf das Vorgehen der britischen Justiz. Der amerikanische Tech-Milliardär Elon Musk feuerte auf seiner Plattform X eine ganze Salve von Kommentaren gegen Starmer ab und behauptete, Grossbritannien gleite unter dem neuen Labour-Regierungs-Chef in den Autoritarismus ab.

Stephen O’Grady von der konservativen Lobby-Gruppe Free Speech Union betont zwar im Gespräch, dass die Gerichte bestehendes Recht anwendeten und nicht auf Geheiss der Labour-Regierung agierten. «Doch manche Verurteilungen zeigen, dass die heutigen Gesetze zu weit gefasst sind», sagte er. Derzeit würden auch Leute verurteilt, die sich im Internet zwar auf inakzeptable Weise geäussert hätten, aber niemanden ernsthaft zu Schaden kommen lassen wollten.

In einzelnen Fällen zum Tragen kommt auch die umstrittene Online Safety Act, die 2023 von der konservativen Regierung von Rishi Sunak verabschiedet worden war. Gemäss den schwammigen Gesetzesbestimmungen kann nun auch die Veröffentlichung von Inhalten geahndet werden, die zwar grundsätzlich legal sind, aber Personen Schaden zufügen, indem sie beispielsweise Jugendliche in den Suizid treiben.

Das Gesetz will die Betreiber von Online-Plattformen in die Pflicht nehmen, kriminalisiert aber auch die wissentliche Verbreitung von Falschinformationen durch individuelle Nutzer. Darum ermittelt die Polizei etwa gegen eine britische Geschäftsfrau, die auf der Plattform X den Attentäter von Southport falsch identifizierte.

Kurz nach Bekanntwerden der Messerattacke auf die Mädchen schrieb die Frau: «Ali al-Shakati ist der Verdächtige, er ist ein Asylsuchender, der letztes Jahr per Boot ins Vereinigte Königreich kam und sich auf einer Beobachtungsliste des Geheimdiensts befand. Wenn das stimmt, ist hier gleich die Hölle los.»

Die Frau gab später an, das Gerücht von Bekannten gehört zu haben. Sie löschte den Post wenige Stunden nach der Veröffentlichung. Doch hatte sich die Falschinformation in Windeseile verbreitet und die Attacken gegen Migranten und Asylunterkünfte befeuert. Abzuwarten bleibt, ob der Frau ein Vorsatz nachgewiesen werden kann.

Meinungsfreiheit gilt nicht absolut

In den USA ist die Meinungsfreiheit im ersten Verfassungszusatz verankert. In Europa hingegen erlaubt Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention explizite Einschränkungen der Redefreiheit. In Grossbritannien hindern Gesetze die Medien etwa an der Veröffentlichung der Identität von minderjährigen Straftätern. Zudem gibt es harte Strafen bei Verleumdungen. Davon betroffen ist der rechtsradikale Agitator Tommy Robinson, der fälschlicherweise einen 15-jährigen Syrer der Gewalt gegen englische Mädchen beschuldigt hat. Ein Gericht hat ihm untersagt, diese Anschuldigungen zu wiederholen, und einen entsprechenden Film Robinsons verboten.

Anders als rechte Online-Agitatoren sieht O’Grady von der Free Speech Union darin keine unzulässige Zensur, zumal das Verbot nach einem rechtsstaatlichen Verfahren erfolgt sei. Doch plädiert er dafür, bei der Verfolgung von simplen Online-Kommentaren Zurückhaltung walten zu lassen. «Wir werden derzeit von Anfragen von Bürgern überschwemmt, die plötzlich Angst haben, illegale Posts veröffentlicht zu haben», erklärt O’Grady. «Diese Angst droht die freie Debattenkultur abzuwürgen.»

Doch politisch scheint der Wind eher in die gegenteilige Richtung zu wehen. In Schottland sorgt ein im Frühling in Kraft getretenes Hassrede-Gesetze für Aufregung und Verwirrung. Und der Londoner Labour-Bürgermeister Sadiq Kahn forderte nach den Sommerkrawallen eine dringliche Verschärfung der Online Safety Act, um die Verbreitung von Falschinformationen härter zu bestrafen.

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