Mittwoch, Oktober 9

Am Donnerstag ist Herrgottstag. In der katholischen Schweiz ist es das bedeutendste Fest des Jahres. Fronleichnamsprozession, vorwärts, Marsch!

In den Dörfern der katholischen Schweiz ist der zweite Donnerstag nach Pfingsten der wichtigste Tag im Jahr. Kirchenhistoriker sagen, an Fronleichnam begehe die Katholische Kirche seit 700 Jahren das Hochfest des Leibes und Blutes Christi. In den Dörfern sagen die Menschen: Es ist Herrgottstag.

Am Herrgottstag, sechzig Tage nach Ostern, tragen Priester eine Monstranz mit der Hostie durch die Strassen der Dörfer. Das Militär marschiert durch die Gassen. Die Leute schmücken ihre Häuser mit Fahnen, sie bauen Altäre und holen die Trachten, Uniformen und Sonntagskleider aus dem Schrank.

Der Herrgottstag wird in Appenzell gefeiert, in Ob- und Nidwalden, in Luzern, in der Surselva, in Freiburg. Doch die Bedeutung dieses Tages zeigt sich am eindrücklichsten in den Bergdörfern des deutschsprachigen Wallis.

Am Herrgottstag versammeln sich die Mitglieder der Musikgesellschaft und des Tambouren- und Pfeifervereins mitten in der Nacht auf dem Dorfplatz. Sie warten, bis die Kirchenglocke 4 Uhr schlägt. Dann marschieren sie los, durch die verwinkelten Gassen des Dorfes, und spielen den ersten Marsch.

Die Musikanten künden an, dass es von nun an keine Hektik, keine Betriebsamkeit und kein Instagram mehr braucht. Die Gegenwart setzt für einen Tag aus. Ab jetzt werden die Sinne nicht mehr betäubt, sondern bespielt, berieselt, berauscht.

Nach einigen hundert Metern macht der Zug Halt. Die Musikanten stehen vor dem Haus des Pfarrers und spielen die Tagwacht, dann ziehen sie weiter zum Dorffähnrich und dann zur Gemeindepräsidentin. Über den Viertausendern setzt allmählich die Dämmerung ein, morgendliche Sommerfrische, Vogelgezwitscher in der Luft. Die ersten Dorfbewohner treten auf die Balkone, sie tragen ihren Schlafanzug und kneifen die Augen zusammen. Sie schauen, hören und schweigen.

Später, aber noch immer früh am Morgen, gibt es für die Musikanten ein Frühstück, eine kräftige Bouillon, das erste Glas Wein, den ersten Schnaps. Andere treffen die letzten Vorbereitungen für den grossen Tag. Sie richten die Altäre her, wo die Prozession später anhalten wird.

Die Musikanten sitzen derweil in der Dorfbeiz oder im Carnotzet, taktieren und teilen ihre Kräfte ein. Sie fragen sich: «Wie warm wird es werden während der Prozession?» Sie tragen schwere Filzuniformen und wissen, dass die Sonne und der Wein auf den Kreislauf schlagen. Und bestellen dann doch die nächste Runde.

In der Prozession konstituiert sich eine Gemeinschaft

Um halb neun stellen sich die Musikvereine auf dem Dorfplatz wieder auf. Vor und hinter ihnen reiht sich die Dorfbevölkerung ein. Jungwacht und Blauring, der Turnverein, die ehemaligen Schweizergardisten, die Erstkommunikanten in ihren weissen Röcken.

Am Herrgottstag zeigt sich das Dorf in seiner ureigenen Opulenz, die Dorfbewohner tragen historische Uniformen, Statuen, Fahnen und Blumengestecke durch die Strassen. Der Einzelne geht in einer bunten Kolonne auf. Es gibt kein Publikum, sondern nur Akteurinnen und Akteure. Wenigstens für einen Tag sind die Dörfer mehr als Verwaltungseinheiten. Sie sind eine eingeschworene Gemeinschaft.

Die Postmoderne, das digitale Zeitalter, der Desillusionismus haben selbst die letzten Bergdörfer der Walliser Seitentäler erreicht. Die Bewohner arbeiten längst im Dienstleistungssektor und nicht mehr auf steilen Feldern und kargen Äckern. Sie haben ein Netflix-Abo, fahren mindestens einmal im Jahr nach Lanzarote und posten Fotos davon auf Instagram. Und an den Sonntagen schlafen sie lieber aus, als in die Messe zu gehen.

Nur einmal im Jahr, am Herrgottstag, ist alles genauso wie früher.

Im Mittelalter ging es am Herrgottstag darum, die Bedeutung der Eucharistie zu stärken, des zentralen Sakraments des Katholizismus. Nach der Reformation wurde der Tag zu einer Machtdemonstration gegen die Zweifler und die Abweichler von Rom, gegen die Protestanten. Und später gegen die liberale, säkularisierte Schweiz.

Heute bezieht sich der Herrgottstag auf das eigene Milieu, auf das Dorf als soziale Kulisse. Er ist eine Selbstvergewisserung der Dorfgesellschaft, dass sie noch besteht. Und für jeden Dorfbewohner die Bestätigung, dass er Teil des grossen Ganzen ist.

Der Herrgottstag ist eine Überinszenierung des Dorflebens, ein religiöses Volksfest. Das Reenactment einer Welt, die es nicht mehr gibt.

Gegen Viertel vor neun pfeift der Tageskommandant in seine Trillerpfeife und ruft das Kommando: Fronleichnamsprozession, vorwärts, Marsch!

Die Prozession folgt einem militärischen Habitus. Einheimische Männer, die als Soldaten mitlaufen, gehören seit dem Sonderbundskrieg zur Prozession. Sie sollen daran erinnern, dass die katholische Schweiz einst in den Krieg zog. Gegen den Liberalismus, die Moderne, den Bedeutungsverlust.

Heute ist es für viele Männer ein Zeichen des Erwachsenseins, wenn sie zum ersten Mal ihr Gewehr schultern und durch das Dorf ziehen. Für die Frauen sind andere, veraltete Rollen vorgesehen. Als junge Mädchen tragen sie Blumengestecke, als erwachsene Frauen die Tracht.

Als vor zwei Jahren in Turtmann erstmals eine Frau am Herrgottstag die Soldaten befehligte, veröffentlichte der «Walliser Bote» dazu eine grosse Reportage.

Gegen elf Uhr nähert sich die Prozession dem Ende. Die Betagten beten den Rosenkranz, der Kirchenchor singt, die Messdiener inhalieren den Weihrauch. Und die Kleinkinder zupfen an ihren Blumengestecken herum, und alle kämpfen sie gegen die Schweissperlen auf der Stirn und die Müdigkeit in den Beinen.

Die Prozession ist eigentlich ein Gottesdienst, der drei Stunden lang dauert. Sie ist aber auch ein konstituierender Moment. Man kann sie riechen, hören, fühlen. Wer all das erlebt und an der Prozession teilnimmt, sie durchsteht, gehört zum Dorf und zur Gemeinschaft.

Wer es nicht tut, wem all diese Rituale missfallen, meidet am Herrgottstag die Öffentlichkeit.

Retreat und Volksfest

Am Nachmittag gehen die Feierlichkeiten weiter. In der Kirche singt der Kirchenchor die Vesper, eine Andacht mit lateinischen Chorälen. Die Musikanten setzen sich in die Bänke und sacken langsam zusammen. Viele sind erschöpft, einige klagen. Sobald die Orgel den ersten Dur-Akkord anschlägt und der Chor das Pange Lingua, einen lateinischen Hymnus aus dem Mittelalter, anstimmt, kommt das Dorf zur Ruhe. Kaum jemand versteht den Text, viele aber fühlen etwas Transzendentes. Manche versinken in religiöse Andacht, anderen schliesst der Wein die Augenlider.

Nach der Vesper sitzen die Teilnehmer zusammen. Verwandte, die längst nicht mehr im Dorf wohnen, sind heimgekehrt, man trinkt ein, zwei Gläser Wein. Dann hält der Gemeindepräsident eine Rede, und wie jedes Jahr sagt er, dass das Dorf dank den Vereinen lebt.

Jetzt spielen die Musikvereine die Walliser Hymne, den Böhmischen Traum. Das Dorffest beginnt, die Leute steigen auf die Stühle und johlen mit. Wer konnte, hat sich am Freitag freigenommen.

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