Freitag, Oktober 4

Guatemalas Indigenen bleibt oft nur die Migration in die USA, um der Armut zu entkommen. Eine Mädchenschule will nun Maya fit für den Arbeitsmarkt machen. Dafür müssen sie kulturelle Hindernisse überwinden.

Das Tier, das sie am meisten motiviere, sei der Fisch, sagt die 17-jährige Maria. Denn der könne gegen den Strom schwimmen. Ihre Zwillingsschwester Olga wählt die Schildkröte, weil diese ihre Ziele im langsamen, aber selbstgewählten Rhythmus erreiche und sich mit ihrem Schild vor den Feinden schütze. Ihre Mitschülerin Mileyda mag den Vogel, weil er hoch fliegen und so Hindernisse überqueren könne.

Die einem indigenen Begrüssungsritual folgende Vorstellungsrunde findet in der Maia-Impact-Schule statt, einer Sekundarschule für indigene Mädchen. In dem anschliessenden Gespräch erzählen die Zwillinge Maria und Olga, wie sie ihren Vater überredeten, sie auf diese Schule zu schicken. Drei ihrer fünf Brüder arbeiten in den USA, die anderen beiden als Gelegenheitsarbeiter auf Feldern der Umgebung. Die Brüder seien froh, dass die Zwillinge die begehrten Stipendien für die Schule bekommen hätten. «Auch weil sie selber so eine Chance nie hatten», sagt Olga.

Für fünfzig Schülerinnen pro Jahrgang hat die Schule Platz. Das Angebot richtet sich an indigene Mädchen aus Sololá, einer der ärmsten Städte Guatemalas, die sich am Nordufer des Atitlán-Sees durch malerische Täler zieht. Die Region ist ein Touristenziel, überall bieten Strassenhändler bunte Handwerkskunst an. Der Atitlán erinnere ihn an den Comersee, «jedoch verschönert durch mehrere riesige Vulkane», schrieb einst der Brite Aldous Huxley. Doch rund 80 Prozent der indigenen Bevölkerung leben hier in Armut, die Familien müssen oft mit einem Dollar pro Tag und Kopf auskommen.

Für die Maya wohnt dem Atitlán mit seinem türkisfarbenen Wasser eine heilige Energie inne. Der Xocomil schlägt hier Wellen und lässt Boote kentern, ein Wind, dessen wilde Kraft indigene Legenden inspiriert. Doch es ist auch ein tragischer Ort: Im Jahr 1524 richtete der spanische Conquistador Pedro de Alvarado hier ein Massaker an der indigenen Bevölkerung an. Heute, genau 500 Jahre später, stellt diese fast die Hälfte der rund 18 Millionen Einwohner Guatemalas – und führt sämtliche Indizes sozialer Ungleichheit an.

Mädchen leiden unter Rassismus und Machismo

Guatemalas Gesellschaft sei immer noch durch Rassismus geprägt, sagt die Schuldirektorin Vilma Saloj. Man traue Indigenen auf dem Arbeitsmarkt wenig zu. Mädchen und Frauen müssten für eine Anstellung in den grossen Städten wie Guatemala-Stadt oder Quetzaltenango auf ihre traditionelle Kleidung verzichten und Hose und Make-up tragen.

In indigenen Gemeinschaften seien die Mädchen oft Opfer des Machismo. Sie würden als finanzielle Belastung angesehen und nach der ersten Menstruation zum Heiraten gedrängt. Wenn Geld für Bildung da sei, investiere man es lieber in den ältesten Sohn. In manchen Gemeinschaften dürften Frauen einem Mann weder in die Augen schauen noch ihn ohne ausdrückliche Erlaubnis ansprechen.

Umso wichtiger sei es, dass die Mädchen ihre eigene Stimme entdeckten. Dafür arbeitet die Schule mit einem mehrstufigen Modell: Die Stimme der Stufe 1 sei das Flüstern in einer privaten Unterhaltung. In Besprechungsrunden wie jetzt mit dem Journalisten aus Europa mögen die Mädchen die Stimme der Stufe 4 benutzen, die für energisches Sprechen steht. Das Empowerment, also die Förderung des Eigenwillens und des Selbstbewusstseins der Mädchen, sei oberstes Ziel, erklärt eine Mitarbeiterin.

Die Schule war 2017 aus einem Sozialprojekt entstanden, das Mikrokredite an indigene Frauen vergab. Die Studienplätze sind heiss begehrt, die Kandidatinnen durchlaufen einen einjährigen Auswahlprozess. Ihre Eltern müssen sich verpflichten, sie über die siebenjährige Sekundarschulzeit zu unterstützen. Arbeiten, auch daheim, ist den Mädchen untersagt. Wer angenommen wird, für den übernimmt die Schule sämtliche Kosten. Finanziert wird dies durch Spenden, die zum grössten Teil aus dem Ausland kommen.

Während öffentliche Schulen oft weder Strom noch Internet noch ausreichend Lehrpersonal haben, wird in der Maia-Impact-Schule ganztägig und dreisprachig unterrichtet. Neben der am Atitlán-See gesprochenen Maya-Sprache Kaqchikel und Spanisch gibt es intensiven Englischunterricht. Ob in Unternehmen oder im Studium, Englisch sei heute Grundvoraussetzung in Guatemala. Wie in den zahlreichen Callcentern amerikanischer Unternehmen, die sich hier angesiedelt haben.

Stolz ist man in der Schule darauf, dass mehrere ehemalige Schülerinnen Stipendien an amerikanischen Universitäten erhalten haben. Olga träumt von einem Psychologiestudium in den USA, um dann später in ihrer Heimat zu arbeiten. Maria hat dagegen noch kein konkretes Berufsziel. Sie wolle indigenen Frauen helfen, ihre Träume zu realisieren, so viel weiss sie.

Früher habe es geheissen, Mädchen könnten in Guatemala nicht studieren, sagt Mileyda. Doch jetzt will sie Wirtschaftswissenschaften studieren, um Unternehmen hier am Atitlán-See zu helfen. Ihre Mutter, die nach nur drei Jahren die Primarschule verlassen hatte, unterstütze ihre Pläne. Mileydas Kollegin Heidi sagt, ihre Eltern hätten nie eine Bibliothek von innen gesehen. Sie will Ärztin oder Krankenschwester werden und die Eltern finanziell unterstützen.

Mileyda (links mit ihrer Mutter) will Wirtschaftswissenschaften studieren. Olga (links im rechten Bild) träumt von einem Psychologiestudium in den USA, ihre Zwillingsschwester Maria hat noch kein Berufsziel.

Nicht alle in Sololá denken wie die Mädchen. Viele Indigene gingen in die USA, weil hier Arbeitsplätze fehlten, sagt Mileyda. «Die Leute, die in die USA gehen, können ihren hiergebliebenen Kindern ein besseres Leben mit besserer Ausbildung finanzieren. Andere machen hier mit dem Geld aus den USA Geschäfte auf.» Die Schulleitung hofft, dass die Mädchen später nicht migrieren. Aber man verstehe, falls dies aus der Not heraus nötig wäre.

Die Verlockung USA

Rund 70 Prozent der Guatemalteken arbeiteten informell, sagt die Migrationsforscherin Ursula Roldán Andrade von der Privatuniversität Rafael Landívar in Guatemala-Stadt. Besonders perspektivlos sehe es für die arme Landbevölkerung aus, die ohne Papiere auf Fincas für einen Bruchteil des gesetzlichen Mindestlohns arbeite. Da sei es verlockend, in die USA zu gehen, zumal sich über soziale Netzwerke verbreite, dass man dort viel mehr Geld verdiene.

«Deshalb verurteile ich die Migration nicht, sondern sehe sie als einzige Chance für Indigene, ein wenig soziale Mobilität zu erlangen», sagt Roldán. Rund drei Millionen Guatemalteken leben laut Schätzungen der Regierung mittlerweile in den USA, viele von ihnen illegal. Nach Mexiko ist Guatemala derzeit Herkunftsland Nummer 2 von an der amerikanischen Südgrenze aufgegriffenen illegal eingereisten Migranten. Allein zwischen Januar und Mai 2024 waren es 86 000.

Die meisten sind Indigene aus dem westlichen Hochland Guatemalas. Ausser unter Rassismus und Armut litten die indigenen Gemeinschaften unter der sich ausbreitenden Mafia-Gewalt durch Jugendbanden sowie den Drogenkartellen. Guatemala liegt auf der heiss umkämpften Schmuggelroute Richtung USA. Die wenigsten Eltern sähen hier eine Zukunft für ihre Kinder, sagt Roldán. «Doch in den USA sei alles möglich, denken sie. Deshalb sind sie dafür, dass die Kinder gehen.»

Der guatemaltekische Staat habe nie ein Interesse daran gehabt, diesen Status quo zu ändern, sagt sie. Die Eliten hätten Angst, dass die Indigenen zu einem selbständig handelnden politischen Faktor werden und ihre Vorherrschaft gefährden könnten. Bereits 2015 hatten sie an den Protesten gegen den mittlerweile wegen Korruption verurteilten Präsidenten Otto Pérez Molina teilgenommen. Und im vergangenen Jahr seien indigene Proteste entscheidend dafür gewesen, dass die Regierung den überraschenden Wahlsieg des Antikorruptionskämpfers Bernardo Arévalo nicht habe annullieren können. «Da haben die Indigenen eine Demokratie verteidigt, die ja gar nicht die ihre ist und von der sie bisher überhaupt nicht profitierten», sagt Roldán.

Eine Indigene mit starker Stimme

Bei den Protesten des vergangenen Jahres stand Luz Emilia Ulario Zavala, damals indigene Bürgermeisterin von Santa Lucía Utatlán, in der vordersten Reihe. Dieses Amt ist ein Organ der indigenen Selbstverwaltung, welche die Belange der Indigenen gegenüber staatlichen Institutionen vertritt. Die Proteste begannen Anfang 2023, weil die Regierung informelle Arbeit besteuern wollte, wie Zavala bei einem Gespräch in ihrem Haus sagt.

Zuerst hätten sich die Einwohner von Santa Lucía Utatlán mit denen der Nachbargemeinde Sololá zusammengeschlossen. Als das Wahlgericht dann die Kandidatur von Thelma Cabrera, einer Indigenen des Mam-Volkes, für die Präsidentschaftswahl Mitte 2023 verboten habe, habe der Protest Unterstützung in ganz Guatemala erhalten. Und als die Regierung den Sieg des Sozialdemokraten Bernardo Arévalo bei jenen Wahlen nicht habe akzeptieren wollen, habe man landesweit Strassen blockiert.

«Ich dachte, dass die Proteste maximal eine Woche dauern würden», sagt Zavala. Doch dann wurden 106 Tage daraus. Als Vertreterin der «48 cantones», einer Art indigenem Dachverband, mit dem auch die Schweizer Fastenaktion und ihre Partner zusammenarbeiten, organisierte sie die internationale Unterstützung für die Proteste. Dafür sprach sie mit Vertretern der USA, der EU, der Weltbank und der Interamerikanischen Entwicklungsbank und reiste nach Stockholm, Brüssel und Genf.

Es sei ihnen dabei nicht so sehr um den Wahlsieger Bernardo Arévalo selbst gegangen. «Wir waren müde, dass überall Korruption herrscht, in der Justiz, im Gesundheits- und im Bildungswesen», sagt sie. Arévalo respektiere man, weil sein Vater Juan José Arévalo viel für die Indigenen getan habe. Der erste demokratisch gewählte Präsident Guatemalas (1945–1951) hatte Reformen zugunsten der Indigenen auf dem Land durchgesetzt, welche er aus sklavenähnlichen Arbeitsverhältnissen befreite.

Ähnliches erwarte man nicht von Bernardo Arévalo, der Mitte Januar sein Amt dank den Protesten und internationalem Druck auf die Regierung antreten konnte. Ihm fehlten für grosse Reformen das Budget und die Unterstützung im Parlament, sagt Zavala. Doch zumindest die Korruption möge er bekämpfen und den Indigenen den Weg an die Universitäten öffnen. «Wir brauchen Zugang zu besseren Jobs.» Nur so lasse sich die Migration Richtung USA drosseln.

Hoffnung in der Mädchenschule

«Unser Volk hat seine Stimme erhoben und für seine Rechte protestiert», sagt die Schülerin Mileyda. «Und die Frauen haben dabei nicht mehr diese Angst gezeigt, sondern sich getraut, etwas zu sagen.» Stolz erzählt Heidi, dass ihr Vater und ihre Brüder bei den Protesten tagelang im Regen ausgeharrt hätten. Sie bedauert, dass sie nicht mitgehen durfte, weil sie noch minderjährig war.

«Es war frustrierend, nicht mit auf die Strasse gehen zu können», sagt auch die per Telefon aus New York zugeschaltete ehemalige Maia-Schülerin Elvira. Seit vergangenem Jahr studiert sie dank einem Stipendium internationale Beziehungen an der Syracuse University. Die korrupten Eliten hätten ihre Interessen vom politischen Wandel bedroht gesehen, sagt sie über die Proteste. Es sei schön, dass sich die indigenen Völker zur Verteidigung der Demokratie zusammengeschlossen hätten. «Das ist doch das Wichtigste, was wir in Guatemala haben: das Recht, zu entscheiden, wer uns regiert.»

Nach Abschluss des vierjährigen Studiengangs will Elvira in Guatemala im Bereich Ausbildungsförderung für Indigene arbeiten, möglichst in einer Institution wie der Maia-Schule. Denn noch immer gebe es Diskriminierung und das Vorurteil, dass Indigene nicht für gehobene Posten geeignet seien. Das wolle sie ändern. Sie spüre, dass ihre Eltern und die acht Geschwister daheim unheimlich stolz auf sie seien.

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