In der Schweiz ist Care Farming noch kaum etabliert. Das Modell ist eine Chance für Menschen mit psychischen oder sozialen Problemen. Auch die Landwirtschaft profitiert. Es birgt aber auch Risiken.
Das Leben von Christine H. ist früh aus den Fugen geraten. Sie hat ihren Mann verloren und zwei ihrer drei Töchter. Sie fiel in ein Loch und kam in eine psychiatrische Klinik. Heute hat sie wieder Halt gefunden. Seit acht Jahren lebt sie auf dem Bauernhof der Familie Koloska im solothurnischen Nennigkofen.
Der Familienbetrieb bestreitet seine Existenz mit Rinderaufzucht, Gemüseanbau und Pony-Reitstunden. Seit rund dreissig Jahren bietet die Familie Koloska zusätzlich zwei Betreuungsplätze an, früher für Drogenabhängige, heute für Menschen mit einer Beeinträchtigung.
Christine H. hat dort ihr neues Daheim gefunden. «Mir war es wichtig, nicht allein zu sein», sagt sie. Der Familienanschluss auf dem Bauernhof gebe ihr Halt. «Ich wollte nicht mehr im Wohnheim leben, sondern in einer Familie.»
«Das Hofleben gibt eine Tagesstruktur und einen sinnstiftenden Alltag vor», sagt der 34-jährige Lukas Koloska. Der Vater zweier schulpflichtiger Kinder hat den Hof vor kurzem von den Eltern übernommen, zusammen mit den Wohnplätzen – was die Familie Koloska seit langem anbietet, nennt sich heute Care Farming und wird in der Schweiz immer beliebter. Eigentlich ein uraltes Konzept, sagt Lukas’ Mutter, Christine Koloska: «Bauernhöfe boten schon immer Platz zum Wohnen und Arbeiten für verschiedenste Menschen.»
Eher zufällig rutschte die Familie Koloska ins Care Farming. Ein gestrauchelter Jugendlicher aus der Nachbarschaft fand Unterschlupf bei ihnen. So begann schliesslich die langjährige Zusammenarbeit mit Vermittlungsorganisationen.
Christine H. hat ihr neues Zuhause über die Wobe AG gefunden. Die Organisation für Wohn- und Betreuungsangebote koordiniert seit 1998 Care Farming in der Nordwestschweiz. Sie vermittelt betreute Plätze für Menschen ab 18 Jahren bis ins hohe Alter mit unterschiedlichsten psychischen und sozialen Problemen, kümmert sich um die Bewohner und ihre Gastfamilien – von der ersten Anfrage bis zum Abschluss eines Betreuungsverhältnisses.
Die Anfragen hätten zugenommen, vor allem für Menschen mit komplexen psychischen Krankheiten und hohem Betreuungsbedarf, wie Patrick Roy, Sozialpädagoge und Berater von Wobe, sagt. Auch die Anforderungen an Gastfamilien und Vermittlungsorganisationen seien gestiegen. «Wir müssen die Gastfamilien intensiver schulen und begleiten», sagt Roy. Das beinhaltet bis vier Beratungsgespräche im Jahr, regelmässige Weiterbildungen und regionale Austauschtreffen. Manchmal müssen auch externe Fachleute hinzugezogen werden.
Zurzeit führt Wobe rund 180 Betreuungsverhältnisse. Manche Menschen wohnen dauerhaft bei Gastfamilien, andere verbringen dort ihre Ferien und Wochenenden oder nutzen das Angebot als Tagesstruktur. Bei diesem Angebot sind die Gäste tagsüber auf dem Hof und abends wieder in ihrem Zuhause.
Auch einmal nichts tun
Heute ist es selbstverständlich, dass die Gäste den Aufenthalt mitgestalten und am Familienleben teilnehmen. «Sie bestimmen jedoch selbst, ob und wie viel und wann sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten mitwirken oder nichts tun», sagt Roy zur gelegentlichen Kritik, Gäste würden als billige Arbeitskräfte missbraucht. «Einigen Gästen ist das Helfen sehr wichtig, es vermittelt ihnen Sinn im Alltag, auch im höheren Alter», sagt er. Ihre Erfahrung und Kompetenz würde zudem oftmals von den Bauernfamilien geschätzt.
Christine H. gefällt es auf dem Hof. «Niemand schreibt mir etwas vor», sagt die Rentnerin. Vorgegeben sind nur die Essenszeiten. Der Tag beginnt um 8 Uhr 50 mit dem Frühstück, gemeinsam mit der fünfköpfigen Familie. Man bespricht die Tagespläne. Christine H. hilft gerne in der Küche mit. Geschirrspüler ein- und ausräumen, auftischen oder den Boden wischen.
«Im Sommer und Herbst gibt es Gemüse und Früchte zu rüsten und zu verkochen, zum Beispiel für Apfelkompott.» Sie legt nur drinnen im Haus gerne Hand an, draussen mag sie es nicht so. Das ist für die Bauernfamilie vollkommen in Ordnung. Daneben macht Christine H. gerne Carausflüge, trifft sich mit ihrer Tochter oder Freundinnen und besucht wöchentlich einen Englischkurs.
Nicht nur die Vermittlungsorganisationen haben ein Auge auf Gastfamilien, sondern auch die Behörden. Für jeden Betreuungsplatz muss bei der Gemeinde oder dem Kanton eine Bewilligung eingeholt werden. Die Behörde macht regelmässig Kontrollen. Wird ein Gast ausgenützt, kann die Bewilligung entzogen werden.
In der Regel trägt der Gast die Kosten für Betreuung und Aufenthalt mit der AHV- oder IV-Rente, mit Ergänzungsleistungen oder einer Leistungsgutsprache durch Gemeinde oder Kanton. Im Kanton Solothurn zum Beispiel beträgt die Tageshöchsttaxe zwischen 140 und 195 Franken, abhängig von der nötigen Betreuung.
Chance für die Landwirtschaft
«Care Farming ist unglaublich breit gefächert», sagt Simone Hunziker von Green Care. Die Dachorganisation für alle Care- und Sozialangebote im landwirtschaftlichen Bereich besteht seit zwei Jahren. Das Angebot umfasst so Unterschiedliches wie Mittagstische für Kinder, Spielgruppen, Pflegekinderplätze, Ferienlager, Reintegration von Suchtkranken, Time-out-Platzierungen oder Betreuung von älteren und beeinträchtigten Menschen.
«Ich sehe ein grosses Potenzial in der Altersbetreuung», sagt Hunziker, die selber ehemals Bäuerin war. «Viele Bauernbetriebe wollen neben der Arbeit auf dem Feld und bei den Tieren auch etwas Gesellschaftliches machen.» Das Angebot müsse jedoch finanziell tragbar sein. Das sei für die Landwirtschaft eine Chance, insbesondere für abgelegene Höfe.
Green Care bietet auch Ausbildungen für angehende Care Farmer an. Um gute Angebote zu haben, arbeitet Green Care an einer Zertifizierung der Betriebe, ähnlich einem Biolabel. «Wir müssen genau hinschauen, nicht zuletzt auch aufgrund des traurigen Kapitels der Verdingkinder», sagt Hunziker.
Gesellschaftlicher Nutzen
Care Farming soll nicht nur der Landwirtschaft einen Nutzen bieten, sondern auch der Gesellschaft. «Wir müssen angesichts des steigenden Bedarfs jede Möglichkeit ergreifen, um die bestehenden Pflege- und Betreuungsangebote zu erweitern», sagt Iren Bischofberger, die an der ETH Zürich zu partizipativer Pflegearbeit forscht.
Care Farming sei eine Chance für die betroffenen Menschen und Angehörigen, es sei heute aber erst ein Nischenangebot. In anderen Ländern wie zum Beispiel den Niederlanden oder Norwegen sei man viel weiter, vor allem in der Betreuung von Menschen mit Demenz auf Bauernhöfen.
Deshalb arbeitet die Pflegewissenschafterin seit Oktober an einer Roadmap für Care Farming. Dabei kommen Alters- und Pflegeinstitutionen, Landwirtschaftsbetriebe und Stiftungen zusammen. Mit dem Ziel: Care-Farming-Angebote in der Schweiz bekannter und leichter realisierbar zu machen.
Bischofberger sagt: «Wichtig ist das ideale Matching zwischen betreuter Person, Landwirtschaftsbetrieb und der passenden Finanzierung.» Ein Merkmal sei, dass es sich um einen produzierenden Betrieb und nicht um einen «Streichelzoo» handelt; betreute Menschen leben in einem normalen Produktionsbetrieb, so die Grundidee.
In der Bauernküche in Nennigkofen sitzt Christine H. am grossen Küchentisch, das Feuer knistert im Ofen. Sie schaut nochmals ihre Englischaufgaben durch, schon bald beginnt der Unterricht. Hilfe der Gastgeberin ist heute nicht nötig. Dann macht sie sich zu Fuss auf ins Dorf zum Englischkurs.