Donnerstag, Oktober 3

Die Kombination aus Wachstum und Inflation definiert den Konjunkturzyklus und ist entscheidend für den Anlageerfolg. Wie können sich Anleger orientieren, und wo stehen die Börsen heute?

Die Anzeichen einer weltweiten Konjunkturerholung mehren sich. Weil gleichzeitig die Inflation gesunken ist, erwartet Chen Zhao von der kanadischen Research-Boutique Alpine Macro für den Rest des Jahres eine «disinflationäre Wachstumsbeschleunigung», ähnlich wie in der zweiten Hälfte der Neunzigerjahre. Wie damals, als sich die Technologieblase aufblähte, schliesst Zhao einen weiteren Aufwärtsschub bei IT-Aktien nicht aus.

Allerdings ist der Höhenflug des Technologiesektors Anfang März ins Stocken geraten. Dafür sind seither Titel aus den Sektoren Energie und Grundstoffe gefragt, um die Anleger 2023 einen grossen Bogen gemacht hatten. Sich zaghaft erholende Konjunkturindikatoren, beispielsweise die Einkaufsmanagerindizes, rund um den Globus sowie die Spannungen im Nahen Osten beflügelten den Ölpreis. Weil sich auch andere Rohstoffe wie Kupfer erholen, scheint es, als ob Anleger beginnen, sich auf ein Szenario mit stärkerem Wachstum und wieder höherer Inflation einzustellen.

Kehrt also tatsächlich das an den Finanzmärkten auch als Goldilocks bezeichnete Szenario mit moderatem Wachstum, sinkender Inflation und lockerer Geldpolitik zurück, das die Jahre seit der Finanzkrise geprägt und für eine markante Höherbewertung der Aktienmärkte gesorgt hat? Oder droht eine Wiederholung von 2022, als die Konjunktur überhitzte, die Inflation anzog und die Notenbanken die Zügel straffen mussten?

Oder anders gefragt: Wo stehen wir im Konjunkturzyklus, wohin bewegt sich das Wachstum, und wie entwickelt sich die Inflation?

Wachstum und Inflation treiben die Börsen

Die Antwort auf die letzten beiden Fragen ist zentral für den Anlageerfolg, weil je nach Kombination der beiden Faktoren andere Anlageklassen, Sektoren und Segmente gefragt sind. Zur Veranschaulichung soll die «Investment Clock» dienen, die die Strategen der damaligen US-Investmentbank Merrill Lynch zu Beginn der Nullerjahre entwickelt haben. Sie teilt den Konjunkturzyklus in die vier Phasen Erholung, Überhitzung, Stagflation und Reflation ein:

Das Modell wurde von anderen Anbietern adaptiert, und die Phasen wurden teilweise umbenannt. Oft ist auch die Rede von Erholung, Aufschwung, Überhitzung oder Verlangsamung und Abschwung oder Rezession. Vier Phasen sind es, weil die Inflation (gestrichelte Linie in der oberen Grafik) dem Wachstum (violett) mit Verzögerung folgt.

In der Erholung, die an den Abschwung anschliesst, sind die Kapazitäten der Wirtschaft noch nicht voll ausgelastet, und die Arbeitslosigkeit ist hoch, das Wachstum drückt die Inflation also noch nicht nach oben. Die Margen der Unternehmen schiessen hoch, die Unternehmensgewinne beginnen zu steigen. Wegen der verhaltenen Teuerung sehen sich die Notenbanken noch nicht veranlasst, die Geldpolitik zu straffen. Aktien legen kräftig zu.

Weil die Kurse schneller steigen als die Unternehmensgewinne, zieht vor allem die Bewertung an, was anfänglich unproblematisch ist, weil die Börsen nach dem rezessionsbedingten Ausverkauf im Normalfall günstig bewertet sind. Gesucht sind auch Junk Bonds, also Unternehmensanleihen von qualitativ minderwertigen Schuldnern, deren Aussichten sich dank des Aufschwungs verbessern. Die hohen Kreditrisikoprämien beginnen zu schrumpfen und sorgen dafür, dass Hochverzinsliche besser abschneiden als Staatsanleihen und qualitativ hochwertige Corporate Bonds.

Goldilocks-Umfeld begünstigt zinssensitive Werte

Das ist das Umfeld, das in den Jahren nach der Finanzkrise bis zum Ausbruch der Covid-Pandemie geherrscht hatte. Besonders beliebt sind in dieser Phase zinssensitive Werte wie Technologie und Finanz sowie frühzyklische Branchen wie zyklischer Konsum. Fassen die Bürger Zuversicht, leisten sie sich, unterstützt durch niedrige Zinsen, wieder grössere Anschaffungen, auf die sie während des Abschwungs verzichtet haben.

Mit Ausbruch der Covid-Pandemie und den damit zusammenhängenden präzedenzlosen geld- und fiskalpolitischen Massnahmen begann die Phase der Überhitzung. Die Kapazitäten waren wegen der erzwungenen Lockdowns überlastet, der Arbeitsmarkt war plötzlich leergefegt, die Inflation zog kräftig an. Die Notenbanken begannen, mit massiven Zinserhöhungen gegenzusteuern.

Die beste Anlageklasse in dieser Phase sind Rohstoffe, deren anziehende Preise zum Inflationsanstieg beitragen. Innerhalb des Aktienuniversums werden Rohstoffwerte zur ersten Wahl. Auch Industrietitel halten sich gut, weil die Kapazitäten ausgelastet sind und Unternehmen in die Ausweitung ihrer Produktion investieren.

Anziehende Kapitalinvestitionen werden zum Narrativ

Im derzeitigen Zyklus werden diese Investitionen durch weitere Faktoren wie die Neugestaltung der Lieferketten, die Energiewende oder die Aufrüstung gestärkt, oft versehen mit Subventionen und staatlichen Garantien. Der Wirtschaftshistoriker Russell Napier sagte deshalb schon 2022 einen beispiellosen Investitionsboom voraus. Erst kürzlich hat der Marktbeobachter Alfons Cortés bestätigt, dass das von Napier formulierte Narrativ der anziehenden Kapitalinvestitionen auch heute noch gültig ist. Es dürfte den Industriesektor damit noch eine Weile beflügeln.

In der Stagflationsphase beginnen die Zinserhöhungen zu wirken. Das Wachstum verlangsamt sich, bewegt sich aber auch wegen des weiterhin angespannten Arbeitsmarktes weiterhin über Potenzial, was die Inflation hoch hält. Die Notenbanken müssen mit Zinssenkungen deshalb zuwarten. Die Kombination aus nachlassendem Wachstum, hoher Inflation und restriktiver Geldpolitik ist nicht nach dem Gusto der Aktienanleger, weil sie auf Margen und Bewertung drückt. Die bevorzugte Anlageklasse in dieser Phase ist Cash, das nicht nur gegen einen Einbruch an der Börse schützt, sondern auch wegen der höheren Geldmarktzinsen gefragt ist.

Es ist das Umfeld, das die Märkte 2022 in Atem hielt. Weil sowohl Aktien als auch Bonds im Zuge der unerwartet heftigen Zinserhöhungen durch das Fed eingebrochen sind, hat das gemischte Portfolio aus 60% Aktien und 40% Anleihen in Dollar fast 20% verloren. Es war der grösste Verlust seit der Finanzkrise und der zweitgrösste Einbruch seit Mitte der Achtzigerjahre. Bleibt die Inflation hoch, dürfte die Korrelation zwischen Aktien und Bonds weiterhin positiv sein und den Diversifikationseffekt der beiden Hauptanlageklassen zunichtemachen.

Defensive Sektoren schneiden im Abschwung gut ab

Innerhalb des Aktienuniversums schlagen sich defensive und damit wenig konjunkturabhängige Branchen wie Gesundheit, Nahrungsmittel und Versorger am besten. Ihr weitgehend stabiles Geschäft mildert das Abwärtsrisiko und sorgt dafür, dass sie besser abschneiden als die marktbreiten Indizes. Bonds sind wegen der weiterhin hohen Inflation noch nicht gefragt.

Das ändert sich in der Rezession, in der sowohl das Wachstum als auch die Inflation sinken. Regierungen und Notenbanken versuchen, die Wirtschaft mit Stimulierungsmassnahmen und kräftigen Zinssenkungen anzukurbeln. Davon profitieren Staats- und qualitativ hochwertige Unternehmensanleihen mit langer Laufzeit anfänglich am meisten.

Innerhalb der Aktienquote sind es weiterhin defensive Sektoren, die auch dank stattlicher Dividenden am besten abschneiden. Dazu gesellen sich frühzyklische Werte und Titel aus dem Technologiesektor, die bereits die kommende Erholung einpreisen.

Wo stehen die Märkte heute?

Wo also stehen die Märkte gegenwärtig? Kehrt die Wirtschaft wie bis vor kurzem erhofft in die Goldilocks-Zeit der Zehnerjahre zurück, oder droht doch eher eine Überhitzung, weil die Konjunktur bereits wieder anzieht, obwohl der Arbeitsmarkt noch angespannt ist? Oder wird die von vielen Experten einst erwartete Rezession doch noch zum Thema?

Zur Beantwortung der Frage können die Surprise Indices von Citigroup herangezogen werden, die die jeweils publizierten Zahlen mit den Erwartungen vergleichen. Der Indikator für das Wachstum bewegt sich sowohl für die Industrie- als auch die Schwellenländer schon seit mehreren Monaten im positiven Bereich, die Wirtschaft wächst also stärker als von den Ökonomen erwartet.

Seit Januar 2024 liegt aber in den USA auch der Inflation Surprise Index über der Nulllinie, die Teuerung fällt demnach wieder höher aus als erwartet. Setzt sich dieser Trend fort, dürfte sich das Überhitzungsszenario durchsetzen.

Einen weiteren Anhaltspunkt liefert die relative Performance zwischen Technologie- und Energieaktien. Seit Beginn der Neunzigerjahre kam es zu drei jeweils rund zehnjährigen Perioden, in denen der eine oder der andere Sektor die Oberhand hatte. Die Neunzigerjahre waren geprägt von Wachstum und moderater Inflation, entsprechend hatten Technologievaloren die Nase vorn. In den Nullerjahren war es genau umgekehrt – die Rohstoffpreise boomten, Inflationsängste kamen auf, Energieaktien liessen IT-Werte hinter sich.

Ölwerte ziehen wieder an

Die Zehnerjahre waren wiederum geprägt vom Goldilocks-Szenario mit Vorteil für die IT-Industrie. Im Nachgang der Covid-Pandemie mit den sprunghaft steigenden Ölpreisen und der anziehenden Inflation machte es den Anschein, als ob sich das Blatt zugunsten der Energieaktien wenden würde. 2023 stockte die Erholung, und die Tech-Titel erhielten durch das Thema künstliche Intelligenz neuen Schub. Seit Anfang März 2024 spricht die relative Performance wieder für den Energiesektor.

Natürlich ist die «Investment Clock» nicht perfekt. Dauerte der Konjunkturzyklus bis zur Finanzkrise rund vier Jahre, sind die Zyklen seither viel länger, was der jahrelangen Niedrigstzinspolitik der Notenbanken geschuldet sein dürfte. Auch die beispiellosen geld- und fiskalpolitischen Massnahmen während der Covid-Krise haben den Zyklus beeinflusst, indem sie eine Rezession bisher verhindert haben. Das erklärt, warum die Börsen letztes Jahr direkt vom Überhitzungs- in das Reflationsszenario gesprungen sind.

Zyklen können sich überlappen

Dazu kommt, dass sich an den Märkten immer wieder Narrative bilden, die den Zyklus verlängern und zur Bildung von Blasen führen können. Derzeit stehen die Chancen nicht schlecht, dass der Rohstoffzyklus länger dauern könnte, weil Ölförderer und Bergbauunternehmen während Jahren kaum in die Erkundung und die Erschliessung neuer Vorkommen investiert haben, während die Nachfrage weiter zunehmen dürfte.

Auch Bonds respektive die Renditen von Staatsanleihen folgen langen Zyklen. So wird rund alle dreissig Jahre ein Wendepunkt erreicht, der gesamte Zyklus von einem Höchst respektive Tiefst zum nächsten dauert damit rund sechzig Jahre. Es ist also gut möglich, dass die Renditen zehnjähriger US-Treasuries im nächsten Abschwung nicht auf die Werte aus dem Jahr 2020 zurückfallen und im nächsten Aufschwung über das letzte Höchst bei 5% steigen.

Und nicht zuletzt ändert sich von Zeit zu Zeit die Sektorzusammensetzung an den Börsen. So bestand der Telecomsektor lange nur aus Telefongesellschaften und war damit der Inbegriff einer defensiven, kaum wachsenden Branche. 2018 wurden diese Namen vom Indexanbieter MSCI in den neu geschaffenen Sektor Kommunikationsdienste überführt, in den auch Internet-Unternehmen wie Alphabet (Google) und Meta Platforms (Facebook) aufgenommen wurden, die ganz andere Treiber haben.

Trotz der Mängel lohnt es sich, die «Investment Clock» im Hinterkopf zu behalten. Sie hilft, das Zusammenspiel zwischen Wachstum und Inflation zu verstehen und sich an den Börsen entsprechend zu positionieren. Die grundsätzlichen Erkenntnisse gelten weiterhin, auch wenn die Zyklen länger geworden sind und sich teilweise überlappen. Denn das wellenförmige Auf und Ab wird uns erhalten bleiben, auf welchem Niveau auch immer.

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