Ein Brief hätte das Leben verändern können. Er wurde aber erst nach fünfzig Jahren zugestellt. Nun steht das Leben erst recht kopf. Die englische Psychoanalytikerin Jane Campbell hat sich für ihr Romandebüt einen knackigen Plot ausgedacht.
Es ist nie zu spät, die literarische Bühne zu betreten. Die 1942 geborene englische Psychoanalytikerin Jane Campbell hat es vorgemacht: Vor zwei Jahren debütierte sie mit ihren vielgelobten Erzählungen «Kleine Kratzer». Das hat sie offensichtlich dazu ermutigt und inspiriert, sich ins Romanfach vorzuwagen. Und siehe da: «Bei aller Liebe», das im Original den gewitzteren Titel «Interpretations of Love» trägt, ist ein lebenskluges, stilistisch souveränes Buch, dessen Autorin sich selbst nichts beweisen muss und allen anderen schon gar nicht.
Drei Menschen stehen im Mittelpunkt, die jeweils zwei Kapitel Raum bekommen, um ihre Sicht auf die Dinge und ihr Leben darzulegen. Es handelt sich dabei keineswegs, wie der Verlag in grosser, aber wohlfeil gegenderter Einfalt behauptet, um «drei Psychotherapeut:innen». Nein, zu tun haben wir es zum einen mit zwei Männern, die auf die achtzig zugehen, mit dem Theologieprofessor Malcolm Miller und dem Psychoanalytiker Joe Bradshaw, und zum anderen mit Malcolms Nichte, der Philosophin Agnes, die mit Ende fünfzig mit einem Geschehen konfrontiert wird, das ihr bisheriges und künftiges Leben auf den Kopf stellt.
Eifersüchtiger Onkel
Agnes’ Onkel Malcolm hat ihr fünfzig Jahre lang einen Brief vorenthalten, den er 1946 dem ihm damals unbekannten Joe Bradshaw übergeben sollte. Nach der Lektüre entschloss sich Malcolm jedoch, das explosive Schreiben nicht auszuhändigen. Darin nämlich schildert Agnes’ Mutter, dass sie im Liverpooler Blitzkrieg von 1941 eine sie überwältigende Liebesnacht mit dem Sanitäter Joe Bradshaw verbracht hatte und sich so nicht sicher sein konnte, wer Agnes’ leiblicher Vater ist, ihr rechtschaffener Ehemann Kurt oder der Womanizer Joe.
Besondere Brisanz erhält Malcolms selbstherrlicher Entschluss, weil Agnes’ Eltern bei einem Autounfall zu Tode kommen und das vierjährige Mädchen als Waise zurückbleibt, in der Obhut seines Onkels und seiner Grosseltern. Seine Liebe zu seiner Nichte mochte Malcolm damals nicht mit jemandem teilen, der sich als ihr potenzieller leiblicher Vater hätte hinzugesellen können. So ahnt Agnes ein halbes Jahrhundert lang nichts vom Geheimnis ihrer Zeugung.
Jane Campbells leichtfüssig erzählter Roman handelt von den Zäsuren, die ein Leben bestimmen, von der Ungewissheit, von welch unterschwelligen Antrieben menschliche Entscheidungen gelenkt werden und inwiefern man sich diese im Nachhinein schönredet. Einen Spannungsbogen gewinnt «Bei aller Liebe» dadurch, dass Agnes, wie Rückblenden ausführen, nach einer Fehlgeburt einst einen Psychotherapeuten aufsuchte – natürlich Joe Bradshaw, der sich sofort heftig zu seiner Patientin hingezogen fühlte. Spielerisch greift Campbell dabei auf vertraute Inzestmythen zurück und lässt Sigmund Freud zu Wort kommen, dessen Lehren eher als Kunst denn als Wissenschaft betrachtet werden.
Späte Lebenseinsichten
Als Agnes und Joe schliesslich mit grosser Verspätung den Bekenntnisbrief der Mutter lesen, bleibt kein Stein mehr auf dem anderen. Agnes überzieht den säumigen Postboten Malcolm mit Vorwürfen; Joe wiederum ist überglücklich, im hohen Alter eine Tochter – ein DNA-Test bringt die Wahrheit ans Licht – zu bekommen, und die beiden Männer führen fortan Gespräche, bei denen sie es nicht mehr nötig haben, mit der Wahrheit hinterm Berg zu halten.
Malcolm erkennt seinen Egoismus, der Agnes’ Leben so nachhaltig beeinflusst hat, und Joe gibt unumwunden zu, wie schlecht er oft die Frauen an seiner Seite behandelt hat. Eine seiner Erkenntnisse kann quasi als Motto über Jane Campbells Roman stehen: «Mit dem Alter kommt die Zerknirschung, Malcolm. Da gibt es kein Entrinnen. Es kommt allerdings drauf an, wie du die Geschichte deines Lebens erzählst.»
All das führt Jane Campbell mit grosser Eleganz vor. Ihr Roman überzeugt nicht auf der ganzen Strecke; vor allem die Schlusskapitel treiben die Ereignisse zu hastig voran, fast so, als sei die Autorin erleichtert, ihre Geschichte einem schnellen Ende zuzuführen. Dessen ungeachtet ist es ein Glück, Jane Campbell nun auch als Romanautorin kennenzulernen. Weitere Bücher dieser Frau, die als Psychoanalytikerin offenkundig mit vielen Abgründen des Lebens vertraut wurde, wären hochwillkommen.
Jane Campbell: Bei aller Liebe. Roman. Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell. Kjona-Verlag, München 2024. 224 S., Fr. 34.90.