Montag, Oktober 14

In Altstetten waschen Männer ihre Karossen am liebsten von Hand – zu jeder Tages- und Nachtzeit. Die Anlage wird bald verschwinden.

Auf dem Areal der Stützliwösch in Zürich Altstetten werden 100 000 Autos pro Jahr gewaschen. Doch im Frühling ist Schluss. Ab dann wird hier gebaut.

Ionut wählt das Programm «Vorwäsche» und nimmt die Hochdrucklanze aus der Halterung. Dann beginnt er sein Auto von allen Seiten abzuspritzen. Er schreitet um den Wagen herum und nimmt die Karosserie genau in den Blick: Ihm entgeht kein Krümel und kein Stäubchen.

Der Kompressor surrt, um Ionut herum entsteht ein kleiner Regenbogen aus Wassertröpfchen, die in der Herbstsonne glitzern.

Es ist Freitagnachmittag, der Andrang bei der Stützliwösch an der Hohlstrasse in Zürich Altstetten ist gross. Alle zehn Plätze sind belegt. So richtig dreckig ist keins der wartenden Fahrzeuge vor der Waschanlage. Trotzdem lassen die Männer gelegentlich ihre Motoren aufheulen. Sie wollen auch an die Reihe kommen.

Doch Ionut lässt sich nicht hetzen. Er gönnt sich und seinem metallic-schwarzen Audi RS 6 Avant (600 PS, ab 155 000 Franken) das ganze Programm: Vorwäsche, Hauptwäsche, Feinwäsche, Klarspülen, Heisswachs, Glanzspülen. Am Ende wird er seinen Boliden liebevoll noch von Hand polieren.

Ionut ist erst vor ein paar Wochen aus Rumänien nach Zürich gezogen. Doch bei der Stützliwösch gehört er schon zur Stammkundschaft. Er kennt die Angebote und die notwendigen Handgriffe schon ganz genau.

Zwischendurch hält er inne und erzählt: Insgesamt 17 Stunden habe die Fahrt von seinem alten Wohnort hierher gedauert. In Budapest musste er einmal pausieren, um etwas Schlaf zu bekommen. Am nächsten Morgen brauste er nach Zürich – einem neuen Leben entgegen. Hier will sich Ionut als Personal Trainer selbständig machen: «Ich bin so aufgeregt – ich fange noch einmal bei null an», sagt er auf Englisch.

Eine Gewohnheit wird Ionut aber auch im neuen Leben beibehalten: Wenn er ein paar freie Stunden hat, startet er das mächtige Aggregat seines Wagens (8 Zylinder, 4 Liter Hubraum), lässt über die Stereoanlage Bon Jovi laufen und fährt durch die Stadt. An Orten, wo es ihm gefällt, hält er an und trinkt einen Espresso.

So komme man unter Leute und sehe, was in den Quartieren so los sei.

Und dann, wenn die Tour zu Ende ist, geht Ionut in die Autowaschanlage. Er sagt: «Mein Auto bedeutet mir sehr viel. Ich putze es jeden Tag von oben bis unten. Ich bin völlig besessen davon!»

Schlammspritzer, Katzenpfoten und Fingerabdrücke

Janine Meyerstein weiss, dass sie in Altstetten viele Kunden wie Ionut hat. «Manche kommen schon seit über 30 Jahren regelmässig hierher», sagt sie. Meyerstein ist Geschäftsleiterin und Mitinhaberin der Firma Autop & Stützliwösch AG. Dem Familienunternehmen gehören neben der Stüzliwösch beim Letzipark auch die Autowaschanlagen in Schlieren, am Sihlquai, beim Tiefenbrunnen sowie an fünf weiteren Standorten.

Die Stützliwösch in Altstetten allerdings ist ein spezieller Ort.

Hier waschen Autobesitzer ihre Fahrzeuge selbst. Eine automatische Waschstrasse gibt es nicht, alles muss von Hand gemacht werden. Die Anlage hat rund um die Uhr geöffnet, es herrscht fast immer Betrieb. All das ziehe ein äusserst vielfältiges Publikum an, sagt Janine Meyerstein. «Vom Banker mit der schweren Limousine bis zum Bauarbeiter mit dem Pritschenwagen: Alle kommen hierher. Sie lieben ihre Autos – und sie lieben es, ihre Fahrzeuge auf Hochglanz zu polieren.»

Handarbeit statt maschineller Rundum-Service: Janine Meyerstein weiss genau, was für ein Vergnügen es ist, selbst spritzen und pützeln zu dürfen.

Am meisten Spass mache es ihr aber dann, wenn der Schmutz am allerschlimmsten ist. Manchmal warte sie deshalb extra, bis sich zünftig Schmutz auf ihrem Porsche Macan (mindestens 265 PS, ab 79 000 Franken) gesammelt habe. Bis da noch mehr Schlammspritzer sind und noch mehr Spuren von Katzenpfoten.

Vorwäsche, Hauptwäsche, Feinwäsche, Klarspülen, Heisswachs, Glanzspülung: Das sind die sechs Schritte zum Glück.

Dann erst fährt Janine Meyerstein hierher, füttert den Automaten, wählt ein Programm und spritzt drauflos. «Eine richtige Erlösung» sei das. Am schönsten sei die Option «Power-Schaum» mit anschliessendem Hochdruck, die das ganze Auto in weissen Schaum hüllt und allen Schmutz anlöst: «Das macht mich einfach zufrieden.»

«Was will man machen?»

Zufrieden sieht auch der Mann aus, der gedankenversunken mit dem Staubsauger hantiert. Mit starkem Akzent stellt er sich vor: Orhan. Seinen BMW X2 (170 PS, ab 55 000 Franken) habe er erst seit vergangenem Mai. Heute sei das erste Mal, dass er ihn putze – ein feierlicher Akt.

Entsprechend gründlich geht Orhan vor: Bevor er die Karosserie wäscht, saugt er die Fussmatten, die Ritzen zwischen den Polstern der Rückbank und den Kofferraum. Der Multifunktionssauger hat auch Druckluft, einen Reifenschwärzer und einen Duftspender im Angebot.

Mit der Option «Power-Schaum» wird das ganze Fahrzeug in weissen Schaum gehüllt. Das löst jeden Dreck.

Früher hat Orhan im Auto geraucht. Aber im neuen Wagen habe er sich das abgewöhnt: «Es ist besser so», sagt er und lacht verschmitzt. Den Duftspender braucht er deshalb nicht. Am Innenspiegel hat er trotzdem einen Wunderbaum aufgehängt. Dieser rieche angenehm nach frischen Zitronen.

«So fühle ich mich im Auto so wohl wie zu Hause», sagt Orhan. Er fährt jeden Tag fünf Minuten mit dem Auto zur Arbeit.

Der Standort hier habe schon etwas Besonderes, findet Orhan. Es gebe immer Leute, die ihr Auto waschen wollen – auch in der Nacht, wenn anderswo die automatischen Anlagen geschlossen sind. Manche der Kunden kennten sich und würden stundenlang über Motoren, Tuning und anderes fachsimpeln. Für ihn sei das nichts. Praktisch findet er aber, dass die Migros und der McDonald’s gleich nebenan sind.

Und im nächsten Jahr, wenn die Autowaschanlage verschwinden wird? «Es ist schade. Aber was will man machen? Dann gehe ich künftig halt woandershin», sagt Orhan.

Hippe Fabrikate statt saubere Autos

Im Juni gaben die SBB bekannt, dass die Architekten Gigon/Guyer auf dem Areal der Stützliwösch ab Mai 2025 ein Gebäude mit sieben Geschossen errichten werden. Darin gibt es 42 000 Quadratmeter Platz für ein Quartierzentrum sowie «urbane Produktion».

Der Neubau wird sich demnach in das Ensemble der ehemaligen Werkstattgebäude gleich nebenan einfügen: Dort werden heute schon Kaffeemaschinen zusammengeschraubt, Rucksäcke und Zeltplanen repariert. Sogar eine Schnapsbrennerei gibt es da.

Hippe Stadtzürcher Fabrikate statt saubere Autos? Janine Meyerstein zuckt mit den Schultern: «Ein Hochhaus bringt natürlich viel mehr Miete, als wir zahlen können.» Sie habe bis heute einen guten Draht zu den SBB. Mehr gebe es dazu nicht zu sagen.

Etwas mehr als ein halbes Jahr bleibt der Stützliwösch in Altstetten also noch. Janine Meyerstein will diese Zeit nutzen: Sie suche fieberhaft nach einem Ersatzstandort, sagt sie. Auch eine Halle wäre ihr recht oder etwas Unterirdisches.

Aber die Suche gestaltet sich schwierig. Zürich will nicht mehr die Autostadt sein, die es einmal war.

Bis zu 350 Franken für ein sauberes Auto

In den Achtzigern war das noch anders: Damals war die Schweiz in Auto-Euphorie. Beat und Ellen Meyerstein, Janines Eltern, führten eine Tankstelle in Lenzburg im Aargau und wollte etwas dazuverdienen. Dann besuchte er eine Fachmesse in Deutschland und kam auf die Idee mit den Waschanlagen mit den Hochdrucklanzen. Das war 1982.

Ein Waschgang kostete damals einen Stutz, daher der Name «Stützliwösch». Heute brauche sie für einen Waschgang zwischen 5 und 7 Franken, sagt Janine Meyerstein. Im Vergleich zu einem Durchgang in einer Waschstrasse, der mindestens 20 Franken kostet, ist das immer noch günstig.

Janine Meyerstein, die Inhaberin der Stützliwösch in Altstetten, sagt: «Manche unserer Kunden kommen schon seit über 30 Jahren regelmässig hierher.»

Beat und Ellen Meyerstein waren nicht die Einzigen, die mit Autowaschanlagen Geld verdienen wollten. Aber sie haben besser als ihre Konkurrenten verstanden, dass es in Sachen Autopflege zwei Typen von Menschen zu geben scheint.

Die einen haben es gern bequem: In der Autop-Filiale beim Bahnhof Tiefenbrunnen gibt es im gleichen Gebäude der Waschstrasse auch eine Weinhandlung. Die Kunden von der Goldküste suchen ihren Champagner aus, während der Dreck von ihrem Auto gewaschen wird. Zusätzlich zur automatischen Autowäsche stehen mehrere Luxusoptionen zur Auswahl. Zum Beispiel der «VIP Complete»-Service mit Teppichreinigung, Holz- und Lederpflege. Dieses Prozedere dauert drei Stunden und kostet 350 Franken.

In Altstetten ist das nicht gefragt. Denn hier leben Leute vom anderen Schlag: Stützliwösch-Kunden gäben ihr Auto nie in fremde Hände. Sie nehmen den Hochdruckreiniger lieber selbst in die Hand und beklagen sich nicht, wenn sie dabei nasse Füsse bekommen.

Und sie scheuen keinen Aufwand: Ionut hat in seinem Kofferraum immer eine Kiste mit Frotteetüchern dabei. Damit wischst er am Ende die Wassertropfen vom Blech seines Autos. Erst dann ist er wirklich zufrieden.

Beat Meyerstein brachte diese Philosophie einmal folgendermassen auf den Punkt: «Alles, was man selber macht, ist gut gemacht.»

«Alles verändert sich»

Trotz Ökotrends, Tempo 30 und Velovorzugsrouten in der Stadt: Die Zahl der Kunden in Altstetten bleibt stabil. «Wir spüren keinen Rückgang», sagt Meyersteins Tochter Janine. In der Stützliwösch Altstetten werden jährlich über 100 000 Wagen gewaschen – fast 300 am Tag.

Das sei auch das Resultat ständiger Investitionen: Vor einem Jahr habe man beispielsweise die Düsen aller Hochdrucklanzen durch solche ersetzt, die weniger Wasser verbrauchen. «Diese kosten zwar 80-mal mehr als gewöhnliche Düsen. Aber wir sparen damit 17 Millionen Liter Trinkwasser pro Jahr», sagt die Geschäftsführerin.

Im nächsten Frühling wird in Altstetten voraussichtlich gar kein Wasser mehr aus den Hochdrucklanzen kommen. Das Ende dieses Standorts schmerze sie sehr – auch wenn sie ein bisschen verstehen könne, dass die SBB für das Areal andere Pläne haben. «Früher war das hier der Stadtrand, es gab Platz für Dinge wie eine Autowaschanlage. Doch jetzt sind wir mitten in einem angesagten Quartier. Alles verändert sich nun einmal», sagt Meyerstein.

Jeder Fleck eine tote Mücke

Der Freitagnachmittag geht langsam in den Freitagabend über. In mehr als zwei Stunden haben hier fast nur Männer ihre Autos gewaschen. Die Mehrheit von ihnen ist über vierzig Jahre alt. Viele tragen enge Shirts, klobige Uhren und sportliches Schuhwerk.

Ist Autowaschen Männersache? Die einzige Kundin der Waschanlage an diesem Freitagnachmittag sagt: «Das ist ein Relikt von früher. Das wird bald verschwinden.»

Helia passt überhaupt nicht in dieses Bild. Sie ist Ende zwanzig und macht sich an einem nigelnagelneuen BMW X4 M40i (360 PS, ab 95 000 Franken) zu schaffen. Auf Englisch erzählt sie, dass sie häufig nach Zürich komme, weil ihre Schwester hier lebe.

Aber in Deutschland, wo sie selbst wohnt, gefalle es ihr viel besser: «Ich liebe es, schnell zu fahren.» Ihr Rekord liege bei 220 km/h. Ihr Auto hat Helia zusammen mit ihrem Mann ausgesucht – «er versteht mehr von der Technik und hat mich beraten», sagt sie. Aber gehören tue es ihr: Sie arbeite als Data-Engineer für eine grosse Baumarktkette. Erst vor einem Monat sei der Wagen geliefert worden.

Doch schon jetzt ist das Nummernschild voller kleiner Flecken – jeder davon eine tote Mücke. «Das nervt mich, das muss sofort wieder weg», flucht Helia. Sie möchte, dass ihr Auto noch so lange wie möglich aussieht wie neu.

Warum hier fast nur Männer ihre Autos waschen? Helia überlegt: «Das ist ein Relikt von früher, als Autofahren Männersache war. Ich denke, das wird bald verschwinden.»

Genauso wie die Stützliwösch.

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