Samstag, April 26

Nach der iranischen Revolution galt das Problem der rechtlichen Ungleichheit von Mann und Frau als reines Frauenproblem, als etwas, das Männer nicht betraf, schreibt die Islamwissenschafterin Katajun Amirpur. Das ändere sich nun.

Mit Drohnen wird die Einhaltung der Kopftuchpflicht nun in Iran überwacht. Den Frauen, die sich nicht an sie halten, drohen hohe, absurde Strafen. So wurde eine Ärztin zu zwei Monaten Leichenwaschen verurteilt.

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Aber wir sehen auch, wie Männer Frauen verteidigen, die wegen eines nachlässig getragenen Kopftuchs oder ihrer offen wallenden Haare von der sogenannten Sittenpolizei angehalten werden. Social Media sei Dank. Mit Joghurt bewarfen umstehende Männer kürzlich einen Mullah, der eine barhäuptige Frau im Supermarkt verbal drangsalierte.

Diese Form von Solidarität gab es nicht immer. Sie ist eine – relativ – neue Entwicklung in diesem System, in dem sich Männer zwar schon lange über Meinungsunfreiheit und Zensur beschwerten, die Privilegien, die ihnen ein islamistisches System gab, aber durchaus gerne beanspruchten: das Recht etwa des Ehemannes, seiner Frau die Ausreise zu verweigern. Oder die Scheidung.

Dass sich hier langsam etwas verändert, sah man zum ersten Mal nach der gefälschten Wahl vom Juni 2009. Kurz danach, im Dezember, gab es folgenden Aufruf auf Facebook: «Sei ein Mann, schick uns dein Bild als Frau» gemeint war: mit Kopftuch. Tausende folgten dem Aufruf. Und schon bald machte Schlagzeilen, was ursprünglich gar nicht als Solidaritätsaktion für die iranischen Frauen gedacht gewesen war.

Flucht in Frauenkleidern

«Men in Hijabs» entstand zunächst aus Solidarität mit einem Mann. Majid Tavakkoli hatte anlässlich des Studententages am 8. Dezember 2009 eine Rede gehalten, in der er die Niederschlagung der Proteste gegen die Wahlfälschung und die herrschende Unterdrückung im Allgemeinen anprangerte. Als die Polizei ihn deshalb festnehmen wollte, ergriff er die Flucht. Einen Tag später veröffentlichte die Nachrichtenagentur Fars ein Foto von ihm in Frauenkleidern.

Das Foto ist eine Anspielung auf Bani Sadr, den ersten Präsidenten der Islamischen Republik. Die beiden Fotos wurden zusammen veröffentlicht. Bani Sadr war 1981, nachdem er in Ungnade gefallen war, angeblich im Hijab aus Iran geflüchtet. Ob das stimmt, ist nicht erwiesen, Bani Sadr hat sich dazu nie geäussert. Da der seit damals bis zu seinem Tode 2021 in Paris lebende Politiker auf der Flucht aber nicht erwischt worden ist, dürfte das Foto eine Fälschung sein. Die Flucht von Oppositionellen in Frauenkleidern ist ein bekannter Topos. Das Regime sandte damit die Botschaft aus: Die Opposition hat keine echten Männer, nur Memmen.

Doch diese Botschaft wurde mit «Men in Hijabs» ins Gegenteil gedreht. Das Signal lautete: Was ist denn schlimm daran, eine Frau zu sein? Das wichtigste Symbol der Islamischen Republik wurde uminterpretiert und parodiert. Und vor allem wurde «Men in Hijabs» zum Anlass, um neu über Geschlechter zu diskutieren. Die Aktion richtete sich sowohl an die in Iran lebenden Bürger wie auch an exilierte Iraner. Die beiden Gruppen wuchsen in den letzten zwei Jahrzehnten immer stärker zu einer Diskursgemeinschaft zusammen, die sich im Internet als Gegenöffentlichkeit zur kontrollierten iranischen Öffentlichkeit konstituiert. Diese Internet-Agora wird zwar von Exilanten geprägt, die aber in einen Dialog mit ihren Landsleuten in Iran getreten sind.

Blinder Fleck der Reformer

Im Ergebnis bedeutet das: Es gibt heute in der iranischen Gesellschaft einen stärkeren Konnex zwischen der Demokratiefrage und der Frauenfrage. Das war lange anders. Nach der Revolution galt das Problem der rechtlichen Ungleichheit von Mann und Frau als reines Frauenproblem, als etwas, das Männer nicht nur nicht betraf, sondern auch aus ihrem Reformbestreben, ihrem Kampf für Demokratie, ausgeblendet wurde. Es war schlicht untergeordnet.

Noch Jahrzehnte nach der Revolution sahen Männer keinerlei Zusammenhang zwischen der Frauenfrage und dem Kampf für Demokratie. Besonders augenfällig ist das in den Schriften jener Autoren, die Demokratie und Reform nicht nur propagierten, sondern innovative Ideen zur Kompatibilität von Islam und Demokratie entwickelten und damit das iranische System widerlegten. Von den meisten kam dazu: nichts.

Abdolkarim Soroush, der wichtigste Protagonist der Bewegung, widmete sich dem Thema Geschlechterungleichheit kaum, und wo er es tat, bewegte er sich in traditionellen Denkschemata. In der wichtigsten Zeitschrift der religiösen Aufklärer fand sich von ihm und seinen Gefährten nie auch nur ein Artikel zu dieser Frage. Danach befragt, sagte Soroush, man habe wichtigere Probleme zu klären, und für Frauenfragen gebe es ja die Frauenzeitschriften. Geschlecht als Kategorie war in den Vorstellungen dieser Denker schlicht nicht vorgesehen.

Stattdessen erstellten sie eine Hierarchie: Demokratie wurde als ein Recht ersten Grades und erster Güte angesehen, welches Priorität habe gegenüber den Rechten der Frau, die eher als Rechte zweiten Grades betrachtet wurden. Das führte sogar zu der Wahrnehmung, dass der Kampf für Demokratie die Hauptsache sei und die Frauenbewegung eine Art Abweichung oder Ablenkung. Abbas Abdi, einer der führenden Reformer, hat das genau so formuliert. Und er schlussfolgerte, dass es zwar legitim sei, dass bestimmte Gruppen, also Frauen, sich für ihre gruppenbezogenen Rechte einsetzen würden, aber sie sollten zusehen, dass sie nicht störten beim grösseren und wichtigeren Kampf für Demokratie.

Das grosse Versäumnis

Natürlich haben Frauen gegen diese Haltung protestiert: Es könne keine Prioritätenskala geben, auf der Frauenrechte unterhalb der Demokratiefrage angesiedelt würden. Auch der Reformer und Philosoph Mohammad Shabestari erklärte öffentlich, dass darüber nachgedacht werden müsse, welche Familienordnung die Gesellschaft brauche, damit Frauen in der Familie nicht diskriminiert würden. «Menschenrechte, Demokratie, soziale Gerechtigkeit müssen hier doch zusammenkommen», schrieb er.

Dieser Bewusstseinswandel ging auch bei den sogenannten nichtreligiösen Intellektuellen vonstatten – um einmal diese fragwürdige Bezeichnung zu übernehmen, die es spätestens seit der Revolution im iranischen Diskurs gibt. Das Regime hatte seinerzeit eine Einteilung in religiöse Intellektuelle und nichtreligiöse vorgenommen. Letztere wurden verfolgt oder von den Universitäten verwiesen. Sie zählten in der Ideologie des Regimes zu den sogenannten «Nicht-Eigenen». Erstere hingegen betrachtete man als die Eigenen. Ihnen gestattete man es, ein wenig Dissens zu formulieren.

Religiöse und nichtreligiöse Intellektuelle hatten aber immer schon eine Gemeinsamkeit: Sie waren nämlich ähnlich blind gegenüber der Geschlechterfrage.

Inzwischen haben auch die nichtreligiösen Intellektuellen ihr Verhalten öffentlich selbstkritisch beleuchtet. So erklärte Hamid Dabashi, Professor für Iranian Studies an der Columbia University und einer der wichtigsten iranischen «public intellectuals», dass man mit der Bewegung «Men in Hijabs» nun endlich Solidarität zeigen könne. Und er fügte hinzu, dass iranische Männer damit sehr spät dran seien: Vor über vierzig Jahren schon hätte man diese Solidarität zeigen müssen, als Frauen der Hijab verordnet wurde.

Ähnliches findet sich auch in Shahriar Mandanipurs Roman «Eine iranische Liebesgeschichte zensieren» (2011 im Unionsverlag erschienen). Darin schämt sich die Hauptfigur, die sich für einen aufgeklärten iranischen Mann hält, «für die eigene damalige Unfähigkeit und Tatenlosigkeit, als nach der Revolution Mütter, Schwestern, Ehefrauen genötigt wurden, Kopftücher und Tschador zu tragen, unter Drohungen oder indem man ihnen Reisszwecken in die Stirn jagte, und als dann Jahr für Jahr ihre Menschenrechte stärker eingeschränkt wurden». So bilanziert er das Versäumnis seiner Generation. Statt für ein Grundrecht zu kämpfen, habe man sich für eine Utopie in Iran engagiert.

«Jetzt sind die Männer dran»

Dieser Einsicht mag auch der Hashtag #ItsMensTurn zugrunde gelegen haben. Er geht zurück auf die Geschichte von Nilufar Ardalan, bekannt unter dem Namen Lady Goal. Sie ist die Kapitänin der Frauennationalmannschaft im Hallenfussball. Als sich im Dezember 2015 die Frauen zum ersten Mal für die Asienmeisterschaft qualifizierten, machte Lady Goal nicht durch ihre Leistung auf dem Spielfeld Schlagzeilen, sondern durch ihre Abwesenheit. Es stellte sich heraus, dass ihr Ehemann ihr die Ausreiseerlaubnis verweigert hatte. Dies resultierte in der Kampagne #ItsMensTurn. «Jetzt sind die Männer dran. Ich gebe meiner Frau ihr Reiserecht zurück», wurde damals gepostet. Oder: «Menschenrechte haben kein Geschlecht.»

Hunderttausende Fotos und Bekenntnisse dieser Art waren seinerzeit auf der Facebook-Seite eingegangen. Was sich daraus entwickelt hat, sehen wir heute. Es gibt mittlerweile ein Bewusstsein dafür, dass Frauenrechte nicht Rechte zweiten Grades sind, dass sie Grundrechte sind wie andere auch. Genau das meint der Slogan: «Frau, Leben, Freiheit». Ohne Frauen gibt es kein Leben, ohne Frauen gibt es aber auch keine Freiheit.

Katajun Amirpur ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Köln. 2023 veröffentlichte sie im Beck-Verlag «Iran ohne Islam: Der Aufstand gegen den Gottesstaat».

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