Mittwoch, Oktober 2

Auf einmal kam die Gefahr nah. Sehr nah. Aufzeichnungen des Israel-Korrespondenten der NZZ.

Anton dreht sich um und schaut mich mit aufgerissenen Augen an, sagt: «Ich weiss auch nicht, wohin!»

Schon seit 60 Sekunden heulen die Sirenen vierzig Kilometer nördlich von Tel Aviv. 90 Sekunden hat man in einem solchen Fall Zeit, um einen Schutzraum aufzusuchen.

Dann öffnet Anton ein Gartentor und rennt los, ich hinterher. Vor einer Minute sind der grossgewachsene Mann mit aufgedrucktem Davidstern auf der Kippa und ich noch Fremde gewesen. Wir hatten eine Pause an einer Tankstelle etwas nördlich von Netanya gemacht, einer Küstenstadt im Zentrum von Israel. Doch dann feuert Iran über 180 ballistische Raketen auf Israel.

Jetzt bunkert sich das ganze Land innert Sekunden ein. Das heisst: Diejenigen bunkern sich ein, die in der Nähe eines Schutzraumes sind und nicht wie Anton und ich ziellos von einer Tankstelle ins Nirgendwo rennen.

Das Gartentor führt zu einem verlassenen Haus. Im Garten angelangt, stellen wir uns unter ein Vordach, als würde es Tropfen regnen statt Raketen.

Als ich im Januar nach Israel gezogen bin, wollte ich mich im Notfall einfach wie die Israeli verhalten, dann käme es schon gut. Die Israeli sind seit Jahrzehnten an Angriffe aller Art gewöhnt.

Doch mit Anton habe ich mir wohl den falschen Israeli ausgesucht, er scheint genauso planlos wie ich.

Er öffnet die Tür und will das baufällige, verlassene Haus betreten, er wirkt panisch. Ein Blick reicht aus, und ich weiss, dass schon ein Raketensplitter das Häuschen zum Einsturz bringen könnte. Ich mache Anton klar, dass wir sicherer sind, wenn wir uns draussen auf den Boden legen. Kaum liegen wir, geht es los.

«Hier sind wir nicht sicher»

Überall am Nachthimmel sind kleine orange Punkte zu sehen, die in Streifen zu Boden gehen. Manchmal treffen sie aufeinander und verglühen, dann hört man eine dumpfe Explosion. «Wie Sternschnuppen», ruft Anton, während er die Hände über dem Kopf zusammenhält.

Einige Minuten bleiben wir auf dem Bauch hinter dem Haus liegen und schauen zwischendurch in den Himmel. Wir rufen «Wow» oder «Was ist das?». Doch das Sirenengeheul übertönt unsere Stimmen.

Plötzlich wird es still. Anton und ich schauen uns an, er sagt, was wir beide denken: «Hier sind wir nicht sicher.» Also rennen wir wieder los.

Wir hasten zurück in Richtung Tankstelle, klingeln unterwegs bei einem Haus, niemand macht auf. Die Angestellten der Tankstelle, ein junger Soldat, ein älteres Ehepaar und eine Frau stehen verloren neben ein paar Betonklötzen. Wo ein Schutzraum ist, wissen sie nicht.

Dann geht es wieder los, die zweite Angriffswelle aus Teheran beginnt. Wir schmeissen uns auf den Boden, das gleiche Schauspiel wie zuvor. Dieses Mal sind die orangen Punkte am Himmel noch näher.

Ich denke daran, dass die Abwehrraketen des Iron Dome normalerweise auf sogenannten offenen Flächen landen, also Feldern etwa, auf denen keine Häuser stehen. Genau dort, wo wir uns jetzt befinden.

Auch dieser Alarm ist nach einigen langen Minuten vorbei. Wir alle richten uns auf, klopfen uns den Staub von den Kleidern und gehen weiter. Der junge Soldat führt uns an – wir laufen schnurstracks zu einem Wohnhaus.

Eine Frau in ihren Vierzigern macht auf. Sie führt uns in den Keller, in dem ihr Mann und ihre Tochter im Teenageralter warten. Wir setzen uns auf die Fliesen, sagen Danke.

Die Familie gibt uns Wasser aus Pappbechern. «Irgendwo haben wir noch Brot», sagt die Mutter. Keiner hat Hunger. Endlich sitzen und nicht mehr liegen. Endlich ein Dach und keine Raketen über dem Kopf.

Zu diesem Zeitpunkt weiss ich noch nicht, wie viel Glück ich an diesem Abend hatte.

Terroristen vor der eigenen Wohnung

Im Keller schaue ich auf mein Handy, das voller Nachrichten ist. Meine Freunde aus Deutschland und der Schweiz fragen mich, wie es mir gehe. Auch meine Freunde aus Tel Aviv melden sich. Sie fragen mich auch: «Bist du in Jaffa?»

Unsere Schicksalsgemeinschaft im Keller redet nun nicht mehr über die Raketen aus Iran, sondern über Jaffa, oder Yafo, wie es viele jüdische Israeli nennen. Jaffa ist das arabisch geprägte Quartier im Süden von Tel Aviv. Und dann fällt ein weiteres hebräisches Wort: «Mechablim» – Terroristen.

Eine halbe Stunde vor dem iranischen Raketenangriff haben zwei Männer aus der palästinensischen Stadt Hebron in Jaffa einen Terrorangriff verübt. Die Männer kamen laut der Polizei aus einer Moschee und schossen auf Passanten, töteten laut Augenzeugen sofort einen Velofahrer. Danach sei mindestens einer der Terroristen in ein Tram gestiegen. Dort ermordete er angeblich vier Personen. Insgesamt töteten die beiden Palästinenser mindestens sieben Zivilisten, bevor sie erschossen wurden.

Direkt gegenüber der Moschee, aus der die Täter kamen, liegt meine Wohnung. Das Tram, in dem die beiden Männer ein Blutbad anrichteten, nehme ich fast jeden Tag. Regelmässig fahre ich mit dem Velo über diese Strasse.

Sie spritzen das Blut mit dem Gartenschlauch weg

Dann verkündet der israelische Heimatschutz, dass man sichere Räume verlassen könne. Im Keller stehen wir auf, bedanken uns bei der Familie, die uns aufgenommen hat. Nach einer kurzen Verabschiedung geht jeder seiner Wege.

Das Leben in Israel hat manchmal etwas Unwirkliches. Nach dem Raketenangriff geht die Frau, die gerade noch neben mir im Dreck gelegen hat, zu ihrem kleinen roten Auto, tankt voll, bezahlt und biegt ein auf die Autobahn. Auch ich steige ins Auto und fahre los – noch 40 Minuten bis Tel Aviv.

Als ich mich Jaffa nähere, merke ich, dass etwas nicht stimmt. Überall auf dem Weg zu meiner Wohnung stehen Polizeiwagen. Vor meiner Haustür befindet sich immer noch eine ganze Armee aus Soldaten, Polizisten und Spezialkräften mit Sturmhauben. Die Anspannung ist gewaltig. Als ich meinen Schlüssel aus der Tasche ziehen will, um meine Haustür aufzusperren, fragt mich eine junge Soldatin, ob ich dort wohne.

Beim arabischen Metzger direkt neben meiner Wohnung spritzen zwei junge Männer mit einem Gartenschlauch das Blut vom Schaufenster und vom Trottoir vor dem Laden. Ich kenne sie. Normalerweise sitzen sie auf Plastikstühlen vor der Metzgerei und rauchen.

Auf einen Terrorangriff ist niemand vorbereitet

Ein junger Israeli, der auch neben der Metzgerei wohnt, berichtet mir vom Angriff. «Ich war zu Hause und habe die Schüsse gehört, danach Schreie», sagt er. Dann sei er mit einem Erste-Hilfe-Set aus seiner Wohnung getreten und habe gesehen, wie die Terroristen immer noch schossen. «Ich habe mich sofort hinter eine Mülltonne geschmissen und bin wieder reingekrochen.»

Als ich später ins Bett falle, denke ich: Israel hat eines der besten Luftverteidigungssysteme der Welt. Auch wenn ich Angst hatte, als ich so viele Raketen wie noch nie am Himmel gesehen habe, hatte ich Vertrauen in den Iron Dome. Ich weiss, wie ich mich in einem solchen Fall verhalten muss.

Ein Terrorangriff an der eigenen Strasse ist etwas anderes. Darauf ist niemand vorbereitet. Wäre ich dort gewesen, hätte ich getötet werden können.

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