Samstag, Oktober 5

Die Iranerinnen und Iraner haben pragmatisch entschieden und in der Stichwahl Masud Pezeshkian als das kleinere Übel gewählt. Ihr Kalkül ist, dass mit dem 69-jährigen Reformer der Lebensalltag zumindest nicht noch schlimmer wird.

So hat es sich Irans Revolutionsführer Ayatollah Ali Khamenei sicher nicht vorgestellt. Nach dem Tod von Präsident Ebrahim Raisi bei einem Helikopterabsturz Ende Mai hatte er wie gewohnt den Grossteil der Kandidaten für die Nachfolge aussortiert. Die bekanntesten Vertreter der Moderaten und Reformer wurden disqualifiziert, übrig blieben fünf Hardliner und ein einzelner Reformer: Masud Pezeshkian, ein weitgehend unbekannter 69-jähriger Herzchirurg und Abgeordneter. Seine Zulassung sollte wohl vor allem den Anschein eines offenen Wettbewerbs erwecken.

Einen Monat später hat aber Pezeshkian die Wahl gewonnen. Er hat sich nicht nur gegen den einflussreichen Parlamentspräsidenten Mohammed Bagher Ghalibaf durchgesetzt, sondern in der Stichwahl auch den früheren Atomunterhändler Said Jalili besiegt. Jalili und Ghalibaf galten im Vorfeld als Favoriten. Es wurde auch angenommen, dass sie die Wunschkandidaten des Revolutionsführers waren. Doch die iranischen Wählerinnen und Wähler haben anders entschieden.

Pezeshkian, der grauhaarige Hinterbänkler, hat es geschafft, Millionen Iraner vor der Stichwahl zu überzeugen, dass es sich lohnt zu wählen. Im Wahlkampf gab er sich bodenständig, nahbar und zugewandt – seine Tochter stets an seiner Seite, die er nach dem frühen Tod seiner Frau allein grossgezogen hat. Er redete die Auswirkungen der westlichen Sanktionen nicht schön und zeigte Verständnis für den Unmut über die desaströse Wirtschaftslage und den Mangel an Freiheit.

Die Aussicht auf einen Sieg Jalilis hat viele aufgeschreckt

Vor der Stichwahl wurde unter den Gegnern des Regimes kontrovers diskutiert, ob man die Wahl boykottieren sollte, um dem System keine Legitimität zu geben, oder ob man Pezeshkian als kleineres Übel wählen sollte. Am Ende haben sich viele für Letzteres entschieden – nicht zuletzt, weil im Fall eines Siegs des Ultrahardliners Jalili eine Verschärfung des Konfrontation mit dem Westen, eine Vertiefung der Isolation und noch mehr Repressionen drohten.

Allerdings zeigt die Wahlbeteiligung von nur 50 Prozent auch, dass ein Grossteil der Wähler grosse Zweifel hegt, dass Pezeshkian die Lage wirklich verbessern wird. Anders als der Reformer Mohammed Khatami 1997 oder der Moderate Hassan Rohani 2013 hat Pezeshkian keine Welle der Euphorie ausgelöst. Die Iraner haben ihre Lehren aus den Amtszeiten von Rohani und Khatami gezogen und wissen genau, wie begrenzt die Macht des Präsidenten ist.

Ein Grossteil der Bevölkerung lehnt heute das verknöcherte System der Islamischen Republik als Ganzes ab. Bei den Anti-Regime-Protesten, die seit 2017 in Abständen das Land erfasst haben, skandierten die Demonstranten «Weder Konservative noch Reformer». Sie sind enttäuscht vom politischen Block der Eslahtaleban, der Reformer, weil diese ihr Versprechen, das System zu reformieren, nie haben einlösen können. Auch werfen sie ihnen vor, das zutiefst autoritäre, repressive System nie als Ganzes infrage gestellt zu haben.

Aus Sicht der Regimegegner ist Pezeshkian nicht moderat

Viele Regimegegner finden daher, dass die Selbstbezeichnung «Reformer» in die Irre führe. Sie kritisieren auch die Einordnung Pezeshkians als moderat. Tatsächlich ist der neue Präsident nur moderat im Verhältnis zu anderen, radikaleren Politikern. Er bleibt ein treuer Anhänger der Islamischen Republik und hat wiederholt dem Revolutionsführer Khamenei seine Ergebenheit versichert. Dieser wird daher wohl auch mit der Wahl Pezeshkians leben können.

Allerdings ist auch klar, dass der Reformer nicht Khameneis erste Wahl war – im Gegenteil. Pezeshkian vertritt in zentralen innen- und aussenpolitischen Fragen wie den Atomverhandlungen und dem Kopftuch dezidiert andere Positionen. Es wird nun interessant sein zu sehen, wie weit er sein Programm umsetzen kann. Im Parlament fehlt ihm die Basis, sein Rückhalt in der Bevölkerung ist begrenzt. Auch seine Wähler dürften sich kaum Illusionen machen, dass er den Kurs des Landes neu ausrichten kann. Es bleibt immerhin die Hoffnung, dass der Lebensalltag unter Präsident Pezeshkian nicht noch schlimmer wird.

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