Montag, Dezember 30

Die Protestbewegung in Iran kämpft zwar gegen das Kopftuch. Sie wehrt sich damit gegen alle Formen der Unterdrückung und findet deshalb breiten Rückhalt in der Bevölkerung.

Kollabiert nun auch das Regime der Islamischen Republik Iran? Diese Frage wird zurzeit oft gestellt. Und tatsächlich: Noch nie in den letzten 45 Jahren stand dieses Regime so sehr gleichzeitig unter immensem aussen- wie innenpolitischem Druck. Dass man den Fall des syrischen Diktators nicht verhindern konnte, hat die aussenpolitische Schwäche nochmals offenbar gemacht.

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Diese hatte sich schon gezeigt, als man über keine Ressourcen mehr verfügte, um dem Hizbullah in Libanon gegen Israel zu Hilfe zu eilen. Auch schwächte der israelische Gegenschlag im Oktober, nachdem Iran Israel angegriffen hatte, das Regime weit mehr, als es zugegeben hat.

Hinzu kommt aber vor allem der Druck, den die iranische Zivilgesellschaft macht. Seit der Niederschlagung der Proteste, zu denen es im Herbst 2022 durch den Tod Mahsa Aminis im Gewahrsam der sogenannten Sittenpolizei gekommen war, ist der Widerstand zwar auf den Strassen abgeebbt. Keineswegs abgenommen hat jedoch der zivile Ungehorsam. Man sieht immer neue Akte der Subversion. Letztmals vor zehn Tagen mit dem Gesangsauftritt von Parastu Ahmadi in einer alten Karawanserei.

Ahmadi brach gleich zwei Tabus der Islamischen Republik. Sie trug kein Kopftuch und stattdessen ein Abendkleid – was den strengen Bekleidungsregeln zuwiderläuft. Und sie sang öffentlich. Das ist Frauen seit der Revolution von 1978 verboten. Nicht nur die Haare, auch die Stimme der Frau gilt den herrschenden Islamisten als so verführerisch, dass sie verborgen und ungehört bleiben muss. Sonst drohe Fitna, gesellschaftlicher Aufruhr, da die Männer nicht mehr an sich halten können.

In den sozialen Netzwerken wird Ahmadi gefeiert für ihren «löwinnenhaften» Mut, sich diesen Tabus widersetzt zu haben. Sie lasse sich das Recht nicht nehmen, gehört und gesehen zu werden, sagt Ahmadi zu Beginn des Videos.

Breite Protestbewegung

Sich aus der Unsichtbarkeit und dem Unhörbarsein zu befreien, ist das zentrale Motiv des Aufstands, der unter dem Namen «Frau, Leben, Freiheit» bekannt wurde. Durch die iranische Hacker-Gruppe «Black Reward» wissen wir, dass das Regime die Herausforderung durch diese Bewegung als die bisher grösste ihres Bestehens ansieht. Denn sie ist gesellschaftsübergreifend.

Damit unterscheidet sie sich massgeblich von den vielen anderen grossen Protesten der Vergangenheit. Entweder gingen diese nur von den Studenten aus (1999) oder nur von dem überhaupt noch wählenden Teil der Bevölkerung (2009, «Wo ist meine Stimme?») oder von den ärmeren Bevölkerungsteilen (2017 und 2018/19).

An diesen Protest jedoch, der genau deshalb feministisch ist, weil er Selbstbestimmung für alle fordert, die ungehört und ungesehen sind, können alle anknüpfen: die sprachlichen Minderheiten, die 50 Prozent der Bevölkerung ausmachen und ihre Muttersprache nicht in der Schule lernen dürfen; ebenso die konfessionelle Minorität der Sunniten, die vermutlich bis zu 15 Prozent ausmachen, aber als quasi nichtexistent gelten; weiter die LGBTQI, die ihre sexuelle Orientierung nicht ausleben dürfen; die Afro-Iraner, die aus der iranischen Geschichte herausgeschrieben – mithin unsichtbar gemacht – werden. Und so weiter und so fort. Wenn ihnen das Existenzrecht nicht gleich abgesprochen wird – wie den Bahais –, sind sie mindestens Menschen zweiter Klasse. Das gilt für Frauen, Christen, Juden, Zoroastrier und andere.

Deshalb erweckt der Begriff «Feminismus» heute bei den Menschen in Iran eine ganz neue Assoziation: Früher wurde Feminismus als Westimport gesehen, selbst Frauenrechtlerinnen wollten damit nichts zu tun haben. Heute ist das anders, denn Feminismus wird als Kampf für Selbstbestimmung verstanden. Deswegen geht es beim Widerstand gegen das Kopftuch nicht nur um das Kopftuch oder das Kopftuch an sich.

Aus diesem Grund wird sich an diesem gesellschaftspolitischen Kampf nichts ändern, auch wenn Irans Präsident Masud Pezeshkian das umstrittene neue Kopftuchgesetz, das noch härtere Strafen für Verstösse gegen die Kopftuchpflicht vorsieht, einstweilen verhindert hat. Pezeshkian hat zwar eingesehen, es drohe die «Gefahr eines Selbststurzes» des Regimes, was der ehemalige Präsident Mohammed Khatami schon vor Monaten in Bezug auf dieses Gesetz erkannt hatte.

Das Gesetz vorerst auszusetzen, wird den Sturz nicht aufhalten können. Das würde nicht einmal gelingen, indem das Kopftuchgebot aufgehoben würde. Denn das Kopftuch ist nur das Symbol für Irans Geschichte der staatlichen Willkür und Unterdrückung.

Drei Herrscher, eine Maxime

Das Kopftuch ist eng verwoben mit der Geschichte der Emanzipation in Iran, im Sinne einer Befreiung von Bevormundung – und nicht erst seit 1978, dem Jahr der iranischen Revolution, sondern seit 1936. In jenem Jahr verbot Reza Schah den Hijab. Er wollte das Land mit allen Mitteln modernisieren. Vor allem äusserlich. Die Staatsmacht entblösste deshalb Tschador tragende Frauen auf der Strasse.

Unter Mohammad Reza, der seinem Vater auf den Thron folgte, wurde das Verbot weniger streng durchgesetzt. Auf der Strasse stand es Frauen frei, ein Kopftuch zu tragen. Der Karriere allerdings war es immer noch abträglich: Man konnte mit Hijab nicht studieren, eine Angestellte im Ministerium oder in der Bank musste sich entscheiden zwischen Job und Kopftuch. Mohammad Rezas Westorientierung zeigte sich vor allem an den Frauen in Miniröcken und Stöckelschuhen auf Teherans Strassen.

Mit dem Sieg der Revolution und der sofort eingeführten Kopftuchpflicht wiederholte sich die iranische Geschichte: Drei Herrscher mit einer gemeinsamen Maxime: Wir schreiben Frauen vor, wie sie sich kleiden müssen, und verwehren ihnen die Selbstbestimmung.

Der Frauenkörper wurde zur Projektionsfläche einer Ideologie. Das macht Iran seit fast einem Jahrhundert aus. Und dagegen wendet sich nun der Slogan «Frau, Leben, Freiheit». Denn das gesellschaftliche Bewusstsein hat sich gewandelt. Heute scheint zum ersten Mal klar: Die Freiheit aller kann nur über die Freiheit für Frauen erreicht werden.

Noch etwas hat sich verändert in den letzten Jahren und eröffnet neue Möglichkeiten: Es ist eine weit grössere Herausforderung, sich gegen eine religiöse Diktatur aufzulehnen als gegen eine nur weltliche. Der Anspruch Khameneis, im Namen Gottes zu regieren, liess viele lange zurückschrecken. Wer gegen eine weltliche Diktatur aufbegehrt, verliert möglicherweise sein Leben. In Irans Theokratie wähnte man zusätzlich sein jenseitiges Heil in Gefahr.

Des Krieges gegen Gott wurden im Herbst 2022 friedliche Demonstranten wie Mohsen Shekari und Majid-Reza Rahnavard angeklagt und hingerichtet. Das Regime hält sich selbst also für Gott? Das glaubt ihm inzwischen niemand mehr; niemand glaubt dem Regime noch sein «Islamisch-Sein», wie man den Begriff «eslami budan» etwas notdürftig ins Deutsche übersetzen muss. Und wer ihm noch abzukaufen bereit wäre, dass das «der wahre mohammedanische Islam ist», der sagt sich: Wenn das Islam ist, dann lieber keinen Islam.

Geschwächte Revolutionswächter

Die zentrale Aussage aller Islamisten weltweit ist: «Al-Islam huwa al-hall», der Islam ist die Lösung. Islamismus meint in diesem Sinne die Ineinssetzung von Staat und Islam. Iranerinnen und Iraner erteilen dem schon lange eine Absage. Nach 45 Jahren real erlebtem Islamismus sagen sie heute: Der Islam ist nicht die Lösung, er ist Teil des Problems. Deshalb ist, was wir hier sehen, eine postislamistische Bewegung.

All das hat viel Potenzial. Aber: Natürlich sind die Revolutionswächter immer noch stark. Und doch sind sie auch geschwächt, weil sie nicht mehr auf den libanesischen Hizbullah zurückgreifen können. Im Herbst 2022 war es wohl vor allem er, der zur Niederschlagung des Aufstands eingesetzt wurde. Die inländischen Teile der Wächter sind gespalten und wollten sich nicht gegen die eigene Bevölkerung wenden. Wie zerrissen auch die Schergen des Regimes sind, zeigt niemand deutlicher als Mohammad Rasoulof in seinem Film «The Seed of the Sacred Fig», mit dem Deutschland ins Oscar-Rennen geht.

Im Film fällt ein Richter im Herbst 2022 die Todesurteile gegen junge Demonstrantinnen der Bewegung «Frau, Leben, Freiheit», zu der auch seine eigenen Töchter gehören. Rasoulof erklärte im Interview mit der NZZ, inspiriert zu dieser Geschichte habe ihn ein Beamter im Evin-Gefängnis, wo er selber im Herbst 2022 eingesessen habe. Dieser sagte ihm: Er denke jeden Tag darüber nach, wann er sich beim Betreten des Gefängnisses selbst hinrichten werde. So sehr verabscheue er dieses System. Dieser Druck kam von seinen Kindern. Sie haben ihn gefragt: Wieso arbeitest du im Gefängnis? Was machst du dort?

Rasoulof beschreibt in seinem Film, was in den letzten beiden Jahren oft zu hören war aus internen Berichten, die wir dank sehr fleissigen iranischen Hackergruppen kennen: Selbst die eigenen Truppen, die Nutzniesser des Systems, kommen diesem abhanden. All das in Kombination mit einer grossen aussenpolitischen Schwäche lässt eine Implosion des iranischen Systems noch näher in den Bereich des Möglichen rücken.

Katajun Amirpur ist Professorin für Islamwissenschaft an der Universität Köln. 2023 veröffentlichte sie im Beck-Verlag «Iran ohne Islam: Der Aufstand gegen den Gottesstaat».

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