Ali Sadrzadeh ist einer der renommiertesten Iran-Kenner. Sein Buch über Ali Khamenei ist mehr als eine Biografie: ein Buch, das zeigt, wie es im Nahostkonflikt weitergehen könnte.
Der Titel von Ali Sadrzadehs Buch lautet «Ali Khamenei – Aufstieg und Herrschaft». Man erwartet also eine Biografie, doch schon der Klappentext schränkt ein, man könne über Ali Khamenei «keine herkömmliche Biografie schreiben». Interviews habe er nie gegeben, kaum aus seinem Leben erzählt, über sein Privatleben werde nicht berichtet.
Darin steckt ein Stück Bescheidenheit. Das Buch hat durchaus Interessantes über Khameneis Jugend und Kindheit zu bieten. Allerdings nicht über dessen Privatleben nach seiner Wahl zu Khomeinys Nachfolger. Aber man erfährt Wichtiges darüber, wie Ali Khamenei an die Macht kam – und wie er sich so lange an der Macht halten konnte.
Es ist zwar inzwischen fast allgemein bekannt, dass Khamenei von dem, der damals federführend an der Entscheidung beteiligt war, nämlich dem damaligen Präsidenten Ali Akbar Rafsanjani, auch bekannt unter seinem Spitznamen «der Hai», vor allem deswegen ausgewählt wurde, weil er als schwach galt. Aber es sollte anders kommen.
Perfekte Verstellungskunst
Ali Sadrzadeh erzählt die Geschichte im Detail und anschaulich gut: wie Khamenei sich demütigte, um als Nachfolger Ayatollah Khomeinys eingesetzt zu werden. Die Zeremonie ist im Internet verewigt. Sadrzadeh beschreibt sie einem deutschen Leser. Und analysiert: «Wir sind Zeuge einer vollendeten Scheinheiligkeit, einer perfekten Verstellungskunst und einer Bereitschaft, sich nötigenfalls selbst so weit wie möglich zu entwürdigen, zu verleugnen, zu demütigen.» Es ist eine der besten Passagen im Buch.
Sadrzadeh erklärt auch, durch welche Qualitäten Khamenei es vermochte, das Wohlwollen Khomeinys zu erlangen. Er ist nämlich ein sehr wortgewandter Prediger. Wohl tatsächlich so gut, dass dies ein fester Teil seiner Erfolgsgeschichte ist – auch andere Quellen bestätigen das. Khomeiny ernannte ihn deswegen zum Freitagsprediger von Teheran, ein ungeheuer wichtiger Posten im System.
Aber Sadrzadeh gelingt es, die Bedeutung solcher Entscheidungen zu erklären. Denn einem deutschen Leser dürfte sich nicht auf Anhieb erschliessen, was eine solche Ernennung bedeutet. Das ist wichtig. Genau durch solche Erklärungen wird das Buch auch zu mehr als einer Biografie von Ali Khamenei. Zu einem Buch über das System der Islamischen Republik, über ihre Funktionsweise, ihre Charakteristika, ihre Eigenheiten.
Ein Gedicht
Spannend ist auch das Kapitel, das übertitelt ist mit «Poesie, Protest und Politik». Darin beschreibt Sadrzadeh, dass Khamenei nie ein typischer Kleriker war. Anders als seinesgleichen las er nämlich persische Literatur – und diese galt unter den Mullahs als häretisch. Er besuchte in seiner Jugend Dichterlesungen, also Zirkel, in denen eine antiklerikale Stimmung herrschte. Und auch hier wieder erklärt Sadrzadeh den Kontext. Welchen Stellenwert Sprache im Islam hat, wozu Prosa benutzt wird, wann auf Poesie zurückgegriffen wird.
Manchmal driftet eine solche Kontextualisierung auch ab, was daran liegen mag, dass Teile des Buches auf ältere Artikel Sadrzadehs zurückgehen. Man fragt sich dann: Was genau ist jetzt hier der Zusammenhang? Aber das spielt letztlich keine Rolle, weil man viele Informationen von Zeitzeugen bekommt, die Sadrzadeh gesammelt hat. So zum Beispiel über die «Zehn Nächte der Poesie», organisiert vom Goethe-Institut. Und deren Bedeutung für die Revolution. Aber das soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Sadrzadeh schreibt zuweilen aus der Ich-Perspektive. Wenn er von Menschen erzählt, die Khamenei getroffen haben – wie dem berühmten Dichter Mehdi Akhavan Sales, um dessen Wohlwollen Khamenei gebuhlt habe. Oder von seinem Treffen mit Ahmad Shamlu, dem vermutlich berühmtesten Dichter Irans im 20. Jahrhundert. Er berichtet davon, wie Shamlu ihm erzählt hat, dass Khamenei ihm wohl eines seiner Gedichte nie verzeihen würde. Daher rühre der Umgang der Islamischen Republik mit ihm.
«Junge Feindschaft»
Das Regime hat Shamlu verfolgt. Und als Iranerin liest man: Der Mann, der die schönste persische Poesie geschrieben hat, auf die das ganze Land stolz ist – er fiel in Ungnade wegen eines Gedichts? Das sind Momente, die einen erschaudern lassen. Und in denen Sadrzadeh Zeitgeschichte schreibt. Shamlu hat das Gedicht dem Radioredaktor Sadrzadeh für einen Beitrag vorgelesen. Es sind die Dinge, die viele Iranerinnen und Iraner Khamenei nicht verzeihen werden.
Die am heutigen Geschehen Interessierten lesen das Kapitel über die, wie Ali Sadrzadeh es nennt, «junge Feindschaft» zwischen Iran und Israel mit besonderer Aufmerksamkeit. Angesichts der wissenschaftlichen Literatur ist es allerdings nur ein kleiner Ausschnitt zum Thema. Sadrzadeh belässt es zwar nicht nur bei den jüngsten Feindseligkeiten, sondern holt weit aus. Dafür ist es allerdings zu kurz. Denn sogar die Bibel kommt auf den wenigen Seiten drin vor, hier allerdings um die historische Nichtfeindschaft zu erklären.
Sadrzadeh benennt Schlaglichter und liefert aufschlussreiche Analysen, etwa wenn er beschreibt, zu welchen Anlässen Khamenei das sogenannte Palästinensertuch trägt. Der Klappentext suggeriert, man würde mehr über den «notorischen Israel-Hass» von Khamenei erfahren. Das beschränkt sich allerdings auf wenige Anmerkungen. Insgesamt gelingt Sadrzadeh trotzdem eine anschauliche Beschreibung von Khameneis Aufstieg und Regierung. Die besondere Qualität des Buches liegt aber vor allem in den Beobachtungen aus erster Hand, die Sadrzadeh nebenhin einstreuen kann und die anschaulich machen, worauf Khameneis Macht beruht.
Ali Sadrzadeh: Ali Khamenei. Aufstieg und Herrschaft. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 2025. 263 S., Fr. 28.90.

