In seinem neuen Roman, «Mein gelbes U-Boot», verbindet Jón Kalman Stefánsson seine Herkunft mit dem tiefen Island. Dabei mischt er Ironie mit Tragik und Phantastik. Literatur erscheint als Kampf gegen den Tod und das Vergessen – und als Fenster zum wahren Leben.
Sommer 2022: Ein isländischer Schriftsteller in mittleren Jahren beobachtet in einem Londoner Park den greisen Paul McCartney. Er will den Ex-Beatle ansprechen. Doch da funkt auch schon die Vergangenheit dazwischen, Kindheit und Jugend kommen hoch.
Jón Kalman Stefánsson, der Doyen der isländischen Literatur, präsentiert einen fulminanten Bildungsroman über die Geburt der Phantasie, das Werden eines Dichters, der es als seine Aufgabe sieht, «den Toten eine Stimme zu geben, die Schlüssel zu finden, welche die Türen zwischen Leben und Tod öffnen».
Der Tod der Mutter ist das Ur-Erlebnis des namenlosen Ich-Erzählers. Die Mutter lehrte den Knirps auf der Mundharmonika «Yellow Submarine» zu spielen. Der Song handle vom Verlangen nach «Phantasiewelten, wo uns die Forderungen der Welt und ihre Schläge nicht erreichen». Sie heisst ihn, ein Gedicht zu schreiben, «das sich so reimt, dass es mich überrascht». Doch dann wird sie krank, es geht bergab, und dann räuspert sich der Vater, der sich vor nichts fürchtet ausser vor Gefühlen, auf der Fahrt ins Krankenhaus drei Mal und sagt, ohne den Blick von der Strasse zu wenden: «Ich fürchte, deine Mama ist gestorben.» Dann räuspert er sich ein viertes Mal: «Ja, so ist es, ich fürchte, das ist eine Tatsache.»
Zuflucht bei den Beatles
Stefánsson variiert die Szene immer wieder. Und auf der Rückbank grölt Gott mit einer Wodkaflasche in der Hand: «Eine Tatsache!» Das ist die Geburtsstunde des Schriftstellers. Der Jung-Poet ist sieben – Stefánsson, der mütterlicherseits einer Dichtersippe entstammt, verlor seine Mutter mit sechs. «Seitdem ist mir vor Tatsachen bang, und ich versuche nach Kräften, sie infrage zu stellen, sie zu bezweifeln, sie zu bekämpfen.»
Der Vater flieht in den Alkohol, der Bub liest die Bibel, der Sonntagsschullehrer predigt. Dass irgendwann eine Stiefmutter in den Reykjavíker Wohnblock einzieht, macht das Leben nicht einfacher. Kein Wunder, sucht der kleine Held Zuflucht bei den sanften Klängen der Beatles.
In surrealen, traumartigen Sequenzen jongliert Stefánsson mit Zeiten und Orten. Ringo Starr verschmilzt mit Islands letztem katholischem Bischof Jón Arason (1484–1550), der sich den dänischen Reformatoren entgegenstellte und von diesen enthauptet wurde. Die Invasion der Dänen wiederum wird mit Putins Überfall auf die Ukraine verquickt.
Einmal mehr sitzt der Vater am Lenkrad seines Autos. «Und puff! ist Papa verschwunden», derweil rast Putin auf McCartney zu und mäht nieder, was ihm im Weg steht. «Er und der Moskowitsch lachen schallend, und Gott stimmt ein.» Doch da greift Papa ins Lenkrad und bewahrt den Ex-Beatle vor dem Tod. «Ich vergiesse die Tränen, die wir beide, Vater und ich, so bitter nötig gehabt hätten.»
Der Sommer auf dem Land, wo Island besonders isländisch ist, ist eine Schule des Lebens. Im Bezirk Strandir in der Nordwestecke der Insel liegt der Hof, von dem die Stiefmutter stammt. Strandir ist eine Welt ohne Beatles, nahe der Mündung eines Fjords, und davor atmet schwer das Eismeer.
Der Ich-Erzähler findet nachts keinen Schlaf, da er die Robben draussen in der Falle verenden hört. Seine Kammer ist «eng wie ein Sarg und hat ein Fenster, das auf den Friedhof hinausgeht». Nachts steigen die Toten aus den Gräbern, fragen nach Neuigkeiten und erzählen, was sie vor 100, vor 500 Jahren trieben. Als der Junge Jahrzehnte später den Ort nochmals besucht, liegen die Höfe brach, sind die Schafe, die Böcke, die Menschen tot.
Gras statt Blumen
Als die Familie schliesslich in ein Einfamilienhaus nach Keflavík zieht, ist der Knabe zum Teenager herangewachsen. Keflavík, das ist der Airport, US-Luftwaffenstützpunkt, der Ort, wo Stefánsson aufwuchs. Hier findet sich eine Menge erzählerisch attraktives Personal. Örlygur, Verfasser des Buchs «Über den Roman, der noch geschrieben werden muss», war Dozent am Isländischen Seminar der Universität, ehe er umsattelte und sich als Taxifahrer profilierte. Stets hat er eine Whiskyflasche in Reichweite. Er behauptet, die Fahrweise seines Intimfeinds, des Fahrlehrers, sei langweilig wie die aktuelle isländische Literatur, bar jeder Risikobereitschaft und Kreativität. Die Fahrprüfung, während deren im Autoradio Guðni Kolbeinsson das «Wort zum Tage» spricht, wird zur Reifeprüfung.
Jón Kalman Stefánsson, der mit als Nobelpreiskandidat gehandelt wird, begreift das Schreiben als Kampf gegen Tod und Vergessen. Örlygurs Sohn stürzt sich in Strandir von einem Fels in die See. «Ohne dich verschwinde ich», sagt der Ertrunkene, «ohne mich gehst du in die Irre und verstummst am Ende.» Literatur ist Stefánsson die Welt, in der sich «die Stimmen der Toten und der Lebenden ineinander verweben», um zu einer «Erinnerung zu werden, die sich in Richtung Unendlichkeit erstreckt». «You and I have memories, longer than the road that stretches out ahead», singen die Beatles im Linienbus nach Strandir, wo sie nie eintreffen werden.
Jón Kalman Stefánsson: Mein gelbes U-Boot. Roman. Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig. Piper-Verlag, München 2024. 367 S., Fr. 34.90.