Für einmal kommen die Amtsinhaber mit einem blauen Auge davon: Die etablierten Traditionsparteien können sich bei der irischen Parlamentswahl an der Macht halten.
Joe Biden, Rishi Sunak, Emmanuel Macron: 2024 gilt als das Jahr, in dem die Wähler die Amtsinhaber angesichts der gestiegenen Lebenskosten abstrafen. Vor diesem Hintergrund kann sich der Regierungschef Simon Harris über den Ausgang der irischen Parlamentswahlen vom Freitag glücklich schätzen. Gemäss vorläufigen Resultaten vom Sonntag kommt seine seit 2011 regierende Mitte-rechts-Partei Fine Gael auf einen Wähleranteil von knapp 21 Prozent, womit sie ihr Ergebnis aus dem Jahr 2000 halten kann.
Verpasste Chance für Linksnationalisten
Die bisherige Koalitionspartnerin, die Mitte-links-Partei Fianna Fail, kommt nach minimen Einbussen auf knapp 22 Prozent der Stimmen und könnte im Parlament am meisten Sitze erringen. Sowohl Harris als auch Micheal Martin, der Parteichef von Fianna Fail, haben signalisiert, dass sie ihre Koalitionsregierung fortführen möchten.
Allerdings ist der Wähleranteil der Grünen von 7 auf 3 Prozent eingebrochen, womit sich die beiden Zentrumsparteien nach einem neuen dritten Partner umsehen müssen. Sie dürften in den kommenden Wochen versuchen, mit der linksgerichteten Labour-Partei, den moderateren Sozialdemokraten oder allenfalls mit unabhängigen Abgeordneten einen Pakt zu schmieden.
Eine verpasste Chance ist das Wahlresultat für die linksnationalistische Sinn Fein. Diese hatte zaudernd auf eine landesweite Welle von Protesten gegen Unterkünfte für Asylsuchende reagiert und war damit bei ihren Kernwählern in der Arbeiterschicht in Verruf geraten. Bei den Europawahlen und den Lokalwahlen im Sommer hatte Sinn Fein dramatische Verluste erlitten. Nun stabilisierten sich die Nationalisten bei einem Wähleranteil von 19 Prozent, womit sie sich auf Augenhöhe mit Fine Gael und Fianna Fail befinden.
2020 hatte die Partei noch 24,5 Prozent der Stimmen auf sich vereint. 2023 hätte sie gemäss Meinungsumfragen zeitweise einen Wähleranteil von rund 36 Prozent erreicht. Im Frühjahr konnte Sinn Fein in der britischen Provinz Nordirland zum ersten Mal die Regionalpräsidentin stellen. Daher hatten die Nationalisten gehofft, auch in Dublin an die Macht zu kommen, um ihr strategisches Ziel eines vereinigten Irland voranzutreiben.
Während des nordirischen Bürgerkriegs galt Sinn Fein als politischer Arm der terroristischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA). Zwar haben sich die Nationalisten unter der Führung der Parteichefin Mary Lou McDonald einen gemässigteren Anstrich verpasst. Dennoch haben die Zentrumsparteien Fine Gael und Fianna Fail eine Koalition mit Sinn Fein ausgeschlossen – auch mit Blick auf die Geschichte.
Graben zwischen den Generationen
Der Wahlausgang ist freilich kein Triumph für die beiden traditionellen Zentrumsparteien, die in Irland seit Jahrzehnten den Ton angeben. Zwar sind die Vertreter der Anti-Migrations-Bewegung hinter den Erwartungen zurückgeblieben, doch sind etwa die guten Resultate der neuen Partei Independent Ireland oder des verurteilten Mafioso und Gang-Leaders Gerry Hutch in Dublin Ausdruck eines Protestvotums.
Simon Harris ist gemäss den Nachwahlbefragungen kein populärer Regierungschef. Der 38-Jährige hatte die Amtsgeschäfte erst im Frühling von Leo Varadkar als frisches Gesicht übernommen, doch scheint er mit seiner übermotivierten Art bei Teilen der Wählerschaft anzuecken.
Die Nachwahlbefragung offenbart auch einen tiefen Graben zwischen den Generationen. Fast 60 Prozent der 18- bis 34-jährigen Iren hätten gerne die Sinn-Fein-Chefin McDonald als Premierministerin gesehen. Fine Gael und Fianna Fail hingegen sind bei der jungen Generation unpopulär und können sich nur dank den älteren Wählern im Amt halten. Als Hauptgrund für den Generationengraben nennen Experten die akute Wohnungsnot, die zum Leidwesen der jungen Iren zu exorbitanten Immobilienpreisen geführt hat.

