Samstag, Oktober 5

Ein neuer Bericht spricht von 2400 mutmasslichen Missbrauchsfällen zwischen 1927 und 2013. Die Betroffenen beschreiben eine Atmosphäre des Terrors und des Schweigens an den von katholischen Orden geführten Schulen.

Irland will den sexuellen Missbrauch an katholischen Schulen in den vergangenen Jahrzehnten aufarbeiten. In einem am Dienstag von der irischen Regierung veröffentlichten Bericht wurden 2400 mutmassliche Fälle zusammengetragen. Die Regierung hat angekündigt, eine Untersuchungskommission einzusetzen.

Die im Bericht erhobenen Vorwürfe richten sich gegen 884 mutmassliche Täter an mehr als 300 von katholischen Orden geführten Schulen. Das wahre Ausmass des Missbrauchs liege vermutlich noch höher, heisst es im Bericht. Die beschriebenen Fälle ereigneten sich zwischen den Jahren 1927 und 2013. Von den mutmasslichen Tätern ist laut dem Bericht weniger als die Hälfte noch am Leben.

Bildungsministerin zeigt sich erschüttert

«Das Ausmass des Missbrauchs ist schockierend», sagte die Bildungsministerin Norma Foley bei der Vorstellung des Berichts. Dieser ist ein erschütterndes Dokument und enthält Schilderungen von fürchterlichem sexuellem Missbrauch und Gewalt, wie Foley laut der britischen Nachrichtenagentur PA sagte. Viele der Überlebenden, die an der Untersuchung teilgenommen hätten, seien jetzt älter und könnten über die lebenslangen Folgen sprechen.

Der Bericht stützt sich auf Angaben von Schulen, Orden und Betroffenen. Die befragten Personen sind zum grössten Teil Männer zwischen 50 und 60 Jahren. Das ihnen widerfahrene Leid habe ihre schulische Leistung, ihre psychische Gesundheit, den Umgang mit Drogen und Alkohol sowie ihre sozialen Beziehungen beeinflusst, sagte die Bildungsministerin weiter. Manche hätten das Grab ihrer Eltern nicht besuchen können, weil der Täter in der Nähe beerdigt gewesen sei.

«Viele sagten, dass ihre Kindheit an dem Tag geendet habe, an dem der Missbrauch begonnen habe», heisst es im Bericht. Die Befragten beschrieben, wie sie «in einer Atmosphäre des Terrors und des Schweigens misshandelt, nackt ausgezogen, vergewaltigt und unter Drogen gesetzt» worden seien. Einige der Befragten waren zudem der Meinung, dass staatliche und kirchliche Einrichtungen angesichts der vielen Fälle zusammenarbeiten würden, um den Missbrauch zu vertuschen.

Enge Verbindung zwischen Kirche und Gesellschaft

Die Kirche spielt unter anderem im Bildungswesen in Irland eine wichtige Rolle. Unter britischer Herrschaft im 17. und 18. Jahrhundert wurde die Ausübung der katholischen Religion unterdrückt. Als Irland in den 1920er Jahren die Unabhängigkeit erlangte, stützte sich der junge Staat stark auf die katholische Kirche. Noch heute werden viele öffentliche Schulen von einer katholischen Organisation geführt.

In den letzten Jahrzehnten haben sich Bevölkerung und Kirche jedoch zunehmend entfremdet. 1961 waren 95 Prozent der irischen Bevölkerung Katholiken, bei der letzten Volkszählung 2022 waren es noch 69 Prozent. Laut einer Studie lag der Anteil der Wähler, die regelmässig (einmal pro Monat oder mehr) in die Kirche gehen, 1990 bei 80 Prozent, 30 Jahre später nur noch bei 28 Prozent.

Grund für die Entfremdung ist auch eine Reihe von Skandalen. Nicht nur in Schulen, auch in Waisenhäusern oder Einrichtungen für Frauen wurden Missbrauchsfälle publik. Hunderte Fälle von sexuellem Missbrauch und Vergewaltigung sind dokumentiert, dazu kommen Tausende Fälle von Zwangsarbeit bei Mädchen und Frauen sowie die Verschleppung von Kindern. In Heimen und Unterkünften für unverheiratete Mütter gab es zudem eine ungewöhnlich hohe Zahl von ungeklärten Todesfällen.

Dokumentation führte zu neuer Untersuchung

Der nun publizierte Bericht ist das Resultat einer Untersuchung, die 2022 nach einer Dokumentation im öffentlichrechtlichen Sender RTE aufgenommen wurde. Im Film wurde sexueller Missbrauch an einer Privatschule in Dublin, die auch viele irische Rugby-Spieler und führende Geschäftsleute besucht haben, aufgedeckt.

Die Dachorganisation Amri, die viele der im Bericht erwähnten Orden vertritt, äusserte ihr «tiefes Bedauern» über den in religiös geführten Schulen erlebten Missbrauch. Die von den Verfassern gemachten Empfehlungen würden geprüft, und man werde entsprechend reagieren. Bis die Ergebnisse der angekündigten Untersuchungskommission vorliegen, dürften noch mehrere Jahre vergehen.

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