Die linke Arbeiterpartei Sinn Fein hofft auf einen historischen Wahlsieg, der die Wiedervereinigung Irlands näher bringen könnte. Doch die Partei hat das Vertrauen vieler Kernwähler mit politischer Korrektheit in der Migrationspolitik verspielt.
Als Mary Lou McDonald im altehrwürdigen Smock Alley Theater in Dublin auf die Bühne tritt, brandet ihr von den Zuschauerrängen Jubel entgegen. Aktivisten halten Transparente mit Wahlversprechen wie «Billigere Mieten!» oder «Kinderbetreuung für 10 Euro am Tag!» in die Höhe. McDonald sagt: «Die Zeit ist reif für echten Wandel und eine Regierung für die arbeitende Bevölkerung.»
Vor wenigen Monaten noch gingen die meisten Beobachter in Dublin davon aus, dass bei der am 29. November anstehenden Parlamentswahl die erste irische Regierung unter der Führung von Sinn Fein Tatsache werden würde. Die Parteivorsitzende McDonald galt als neuer Star am Polithimmel. Während des nordirischen Bürgerkriegs war Sinn Fein der politische Arm der terroristischen Irisch-Republikanischen Armee (IRA) gewesen. Doch McDonald verkörpert einen Generationenwechsel. Es gelang ihr, die Erinnerung an die dunkle Geschichte zu verdrängen und ihrer altlinken Partei einen gemässigten, kosmopolitisch-progressiven Anstrich zu geben.
2020 hatte McDonald die Linksnationalisten bei der irischen Parlamentswahl nach grossen Stimmengewinnen erstmals zum Sieg geführt. Zwar schlossen die zentristischen Traditionsparteien Fine Gael und Fianna Fail mit den Grünen eine Koalition, um Sinn Fein von der Macht fernzuhalten. Doch dies schien die Popularität der Linkspartei bloss weiter zu befeuern.
Durch den Brexit sind die faktisch im EU-Binnenmarkt verbleibende britische Provinz Nordirland und die irische Republik näher zusammengerückt. Und nachdem Sinn Fein im Frühjahr erstmals in Belfast die nordirische Regionalpräsidentin hatte stellen können, rechneten die Linksnationalisten mit der historischen Chance, gleichzeitig im Norden und im Süden der Insel zu regieren – und dadurch ihr strategisches Ziel eines vereinigten Irlands vorantreiben zu können.
Nun aber liegt die Partei in den Meinungsumfragen nicht mehr bei fast 37 Prozent der Stimmen wie vor einem Jahr, sondern nur noch bei rund 20 Prozent. Damit befindet sich Sinn Fein in einem ähnlichen Bereich wie Fine Gael und Fianna Fail, die versuchen dürften, ihre Zentrums-Koalition fortzuführen.
Was ist in den letzten Monaten geschehen? Hat Sinn Fein die Chance auf eine historische Machtübernahme auf der irischen Insel verspielt?
Markante Zunahme von Asylgesuchen
Die Suche nach Antworten führt ins Dubliner Arbeiterquartier East Wall nördlich des Stadtzentrums. Das Viertel wirkt unauffällig, aber keineswegs verwahrlost, auch wenn die Reihenhäuschen an diesem regnerischen Novembertag einen trostlosen Eindruck hinterlassen. Vor einem grauen Bürogebäude steht Valerie Murphy. Die 57-Jährige erinnert sich ganz genau an den kalten Novemberabend vor zwei Jahren, als sie sich hier erstmals mit anderen Anwohnern zu einer Demonstration versammelte.
Die irische Regierung hatte rund 400 Asylbewerber in dem notdürftig umfunktionierten Bürogebäude untergebracht. «Wir wurden weder konsultiert noch informiert», sagt Murphy. «Es waren ausschliesslich junge Männer ohne Frauen und Kinder, und es gab Berichte von Belästigungen.» Damals konnte sie nicht ahnen, dass die Aktion in East Wall zum Ausgangspunkt einer Welle von Demonstrationen werden sollte, die bis Anfang 2024 das ganze Land erfassen würde.
Nach dem Ende der Pandemie erlebte Irland eine deutliche Zunahme von Asylgesuchen. Wurden 2019 noch weniger als 5000 Schutzsuchende registriert, lag die Zahl seit 2022 zwischen 13 000 und 17 000 Personen pro Jahr. Der markante Anstieg ist eine Folge des Kriegs in der Ukraine, aber nicht nur: Als Letztes zählten Nigeria, Algerien, Afghanistan und Somalia zu den wichtigsten Herkunftsländern.
Als Gründe nennen Experten den Zustrom von Migranten, die sich wegen Verschärfungen des britischen Asylrechts von Grossbritannien ins Nachbarland absetzten, oder die Perzeption Irlands als englischsprachiges und grosszügiges Gastland. Fest steht, dass die Regierung mit der Zahl der Ankömmlinge völlig überfordert war. Angesichts der grassierenden Wohnungsnot fehlt es an Unterkünften. In der Dubliner Innenstadt entstanden Zeltstädte für obdachlose Migranten.
Die Beamten funktionierten günstige Hotels auf dem Land oder leer stehende Gebäude in ärmeren Stadtvierteln in Asylzentren um, was bei der Lokalbevölkerung Proteste auslöste. Im Internet verbreiteten Agitatoren die Verschwörungstheorie, die irische Bevölkerung solle durch Migranten «ersetzt» werden. Teilweise kam es zu Brandanschlägen, offenem Rassismus und Krawallen – wie Ende 2023, als in Dublin Trams und Polizeiautos in Flammen aufgingen.
Valerie Murphy verurteilt Gewalt, versteht aber die Frustration der Bevölkerung. Sie selber habe immer eine soziale Ader gehabt, sagt sie. Jahrelang betreute sie für die Heilsarmee Obdachlose. Nun aber leidet sie selber unter den steigenden Lebenskosten. Seit sie vor zwei Jahren entlassen wurde, lebt Murphy von einer Witwenrente und anderen staatlichen Zuschüssen.
«Klar gibt es Flüchtlinge, die Schutz brauchen», sagt Murphy. Doch die meisten Migranten kämen ohne gültige Papiere an, weshalb niemand ihre Identität prüfen könne und weshalb Irland sie auch nicht aufnehmen müsse. «Aber die Regierung verschafft ihnen Unterkünfte, während sie die Iren seit Jahren links liegen lässt.»
Unabhängige fordern Sinn Fein heraus
Laut dem an der Universität Limerick lehrenden Politologen Rory Costello haben sich die gestiegene Einwanderung und die Proteste negativ auf die Popularitätswerte von Sinn Fein ausgewirkt. «Sinn Fein war in der Arbeiterklasse verankert und galt als Anti-Establishment-Partei», erklärt er im Gespräch.
Nun aber hätten viele Exponenten der Linksnationalisten mit Kritik und Rassismusvorwürfen auf die Proteste reagiert – worauf sie von Wählern aus der Arbeiterklasse als «Verräter» beschimpft worden seien. Laut Costello hat die Migrationskrise Sinn Fein noch viel stärker geschadet als den in der Verantwortung stehenden Regierungsparteien.
Der seit dem Frühling amtierende Regierungschef Simon Harris von der Mitte-rechts-Partei Fine Gael ist in der Migrationspolitik nach rechts gerückt. Er liess medienwirksam die Zeltstädte in Dublin räumen und intensivierte die Rückführung von Migranten nach Grossbritannien. Doch Gavin Pepper hält dies für Augenwischerei. «Die traditionellen Politiker haben der irischen Arbeiterklasse längst den Rücken gekehrt», sagt er bei einem Treffen im Dubliner Stadtzentrum.
Pepper sieht sich als typischen Vertreter der Arbeiterschicht. Er wuchs in einer der berüchtigten Sozialsiedlungen Dublins auf, seine Eltern arbeiteten als Reinigungskräfte und hatten kaum Geld. Während Jahren wählte der 39-jährige Taxifahrer und Vater von sechs Kindern Sinn Fein, doch nun hat er sich auch von den Linksnationalisten abgewendet. «Sie hören uns nicht mehr zu und tun nichts für die einfache Bevölkerung.»
Pepper avancierte im letzten Jahr zu einem der Wortführer der migrationskritischen Proteste. Auf grosses Echo in den sozialen Netzwerken stiessen seine wütenden Videos, in denen er erklärte, Irland sei voll. Den homosexuellen irischen Migrationsminister stellte er in die Nähe von Pädophilie. Im Juli gelang ihm als unabhängigem Kandidaten die Wahl ins Dubliner Lokalparlament. Nun tritt er als «Independent» auch bei den nationalen Wahlen an – und hofft, Sinn Fein im Wahlkreis Dublin North-West einen Sitz abzuluchsen.
Anders als in den meisten westeuropäischen Demokratien gab es in Irland bis heute nie eine erfolgreiche rechtspopulistische Partei. Die Proteste gegen die Asylunterkünfte führten dem Land zwar vor Augen, dass rechtes Gedankengut auch in Irland auf fruchtbaren Boden fällt. Doch fehlt ein charismatischer Politiker von nationalem Gewicht, der diese Stimmung bei der Parlamentswahl in substanzielle Sitzgewinne für eine Rechtspartei ummünzen könnte.
Proteststimmen gehen in Irland traditionell an unabhängige Kandidaten wie Pepper. Doch sind die «Independents» keine homogene Truppe. Eine Mehrheit fährt einen rechten Kurs, andere vertreten aber auch eher linke oder spezifische lokale Anliegen. Laut Umfragen könnten die «Independents» bei der Wahl dieses Jahr rund einen Fünftel aller Stimmen auf sich vereinen – so viel wie nie zuvor.
Pepper fordert weniger Migranten, bessere Grenzkontrollen und mehr Ausschaffungen. Vor allem aber will er Irland in das Land zurückverwandeln, das es einst war. Als Treffpunkt für das Gespräch hat er die Moore Street im Zentrum Dublins ausgewählt. «In meiner Kindheit war die Strasse voller irischer Früchte-, Gemüse- und Blumenverkäufer», sagt er. «Nun hat sie sich demografisch völlig verwandelt in eine Geisterstadt voller billiger Telefon-Shops.»
Sollte er ins Parlament gewählt werden, möchte Pepper ein Gesetz erlassen, das Unternehmen verpflichtet, einheimische Arbeitskräfte anzustellen. «Die Regierung kümmert sich nur um die Tech-Multis wie Facebook und Google, die ihre Mitarbeiter aus dem Ausland mitbringen. Und diese sorgen dafür, dass die Mieten massiv steigen.»
Grassierende Wohnungsnot
Der akute Mangel an bezahlbarem Wohnraum, die hohen Lebenskosten und die Migration gehören zu den wichtigsten Sorgen der Wählerinnen und Wähler im Wahlkreis Dublin Mid-West. Der Sinn-Fein-Abgeordnete Eoin O Broin schreitet mit einem Team von Wahlhelfern durch eine Siedlung von einfachen Reihenhäusern, die während der Boomjahre um die Jahrtausendwende entstanden sind und Angehörigen der unteren Mittelschicht damals die Chance auf den Erwerb eines Eigenheims boten.
Eine ältere Wählerin ist ungehalten über das Zentrum für Asylsuchende, das die Regierung in der Nähe errichtet habe, ohne die Lokalbevölkerung zu konsultieren. «Viele Menschen haben das Gefühl, von den Behörden ignoriert worden zu sein, das hat einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen», sagt O Broin. Er räumt aber auch ein, dass Sinn Fein Fehler gemacht habe. «Wir waren zu korrekt und versuchten niemandem auf die Füsse zu treten», erklärt er.
Im Sommer hat die Partei ihren Kurs korrigiert. Progressive Identitätspolitik ist aus dem Wahlkampf verschwunden. Die Forderung nach einem vereinigten Irland rückt in den Hintergrund. In der Migrationspolitik fordert Sinn Fein nun konsequentere Rückführungen. Zudem sollen Asylsuchende nicht mehr in den ärmsten, sondern verstärkt auch in den wohlhabenderen Gegenden des Landes untergebracht werden.
Eine Frau, die in ihrem Vorgarten Laub recht, ist schlecht auf irische Politiker zu sprechen, aber fast noch schlechter auf ihre eigenen Kinder. Die beiden Mittzwanziger fielen ihr noch immer im Elternhaus zur Last, anstatt endlich auszufliegen, klagt sie. Allerdings sei es für junge Irinnen und Iren fast unmöglich geworden, in Dublin eine erschwingliche Unterkunft zu finden. In Irland hält die Zahl der neu gebauten Wohneinheiten mit der wachsenden Zahl der Einwohner längst nicht mehr Schritt. Zum hohen Bevölkerungswachstum trägt die Einwanderung entscheidend bei, wobei die Asylsuchenden im Vergleich zu den Arbeitsmigranten kaum ins Gewicht fallen.
O Broin verspricht, dass eine Regierung unter der Führung von Sinn Fein 300 000 Wohnungen aus dem Boden stampfen würde. Zur Umsetzung des ambitionierten Programms setzt die Linkspartei vor allem auf den Staat, der Sozialwohnungen und günstigen Wohnraum zur Verfügung stellen soll.
Sinn Fein hat viele Ideen, um die sprudelnden Steuereinnahmen von multinationalen Unternehmen auszugeben. O Broin verspricht subventionierte Kinderbetreuung, Steuererleichterungen für Geringverdiener und vereinfachten Zugang zu Ärzten und Zahnärzten. Und er hofft, dass Sinn Fein dank der jüngst erfolgten Fokussierung auf die materiellen Alltagssorgen die Gunst der einfachen Irinnen und Iren doch noch zurückgewinnen kann.