Montag, November 17

Der neue syrische Machthaber Ahmed al-Sharaa verspricht, die ethnische und religiöse Vielfalt in Syrien zu achten. Den Kurden stellt er sogar ein autonomes Gebiet in Aussicht. Diese werden aber gegenwärtig von der Türkei und dem wiedererstarkenden IS bedrängt.

In den Wirren des Umsturzes in Syrien droht den Kurden, möglicherweise aber auch ganz Syrien und Europa, eine gefährliche Lageentwicklung. Das kurdische Gebiet wird von zwei Seiten her bedrängt: von Westen her durch die Türkei und mit ihnen verbündete arabische Milizen und aus südöstlichen Wüstenregionen Syriens von einer Gruppe, die lange Zeit als geschlagen galt: Daesh, die arabische Bezeichnung des Islamischen Staats, fasst in der Region sukzessive wieder Fuss.

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Das Schreckensgespenst IS meldet sich zurück. Damit werden auch die mehr als 10 000 Gefangenen und mehr als 50 000 Angehörige der Kämpfer in Erinnerung gerufen, die seit der Niederlage des Islamischen Staats in Syrien und im Irak in kurdischen Lagern und Gefängnissen interniert sind. Sie gelten selbst aus der Sicht der Kurden als «tickende Zeitbombe» einer neuen Terrororganisation.

Nach Angaben der kurdischen Selbstverwaltung gibt es in Nordostsyrien 22 Gefängnisse und Gefangenenlager. Von den etwa 10 000 Terroristen stammten 7500 aus Syrien oder dem Irak, 2500 aus Drittstaaten, davon rund 200 aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz. Hinzu kommen laut kurdischen Angaben weitere 1500 Ehefrauen und Kinder, Witwen und Waisen von IS-Kämpfern mit einem deutschen, österreichischen oder Schweizer Pass.

Brutstätten für die Extremisten

Seit der IS militärisch besiegt wurde, müssen die Kurden die 60 000 Terroristen und ihre Angehörigen bewachen und versorgen. Eines der Gefängnisse befindet sich in der Nähe von Hasaka. Verschiedenen Angaben gemäss sollen dort zwischen 3000 und 5000 erwachsene und auch minderjährige IS-Terroristen auf engem Raum inhaftiert sein. Orte wie dieser sind Brutstätten für die Extremisten. Die meisten von ihnen befinden sich seit Jahren dort ohne eine Perspektive, wie es mit ihnen weitergehen könnte.

Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung reisten in der Vergangenheit immer wieder nach Deutschland und in andere europäische Staaten, um für eine stärkere Unterstützung oder eine Rücknahme der Staatsangehörigen zu werben. Ihr Ziel ist es, die Gefangenen in ihre Heimatländer abzuschieben oder vor ein internationales Tribunal zu stellen.

Doch nach kurdischen Angaben seien bis Ende 2023 lediglich 76 männliche Terroristen in ihr Herkunftsland übergeführt worden. Offizielle Beziehungen Deutschlands zur Selbstverwaltung gibt es allerdings nicht. Deshalb, so das Auswärtige Amt, leiste die Bundesregierung auch keine finanzielle Unterstützung für die IS-Gefängnisse.

Die syrischen Kurdenvertreter beklagten wiederholt, dass sie sich alleingelassen fühlten. Dabei seien sie es gewesen, die im Kampf gegen die Extremisten des Islamischen Staats in Syrien die Hauptlast getragen hätten. Gemeinsam mit der westlich geführten Anti-IS-Allianz befreiten sie im Oktober 2017 unter anderem Rakka, die inoffizielle Hauptstadt des von den Extremisten errichteten Kalifats. Die Stadt ist heute Teil eines selbstverwalteten Gebiets im Norden und im Osten des Landes.

Vor gut neun Jahren bildeten die syrischen Kurden eine eigene Regierung, die kein Staat der Welt bis jetzt anerkennt. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan wirft ihnen vor, sie seien Verbündet der PKK. Diese aus der Türkei stammende kurdische Partei wird auch in den USA und der EU als Terrororganisation eingestuft. Die syrischen Kurden betonten in letzter Zeit wiederholt, dass sie keine Unterstützer der PKK mehr seien.

40 000 ausländische Jihadisten

Die Kurden dagegen werfen dem türkischen Machtapparat bis heute vor, er unterstütze die Extremisten und Jihadisten in Syrien. Nach amerikanischen Angaben kamen im Verlauf des Bürgerkriegs rund 40 000 ausländische Jihadisten nach Syrien, die grosse Mehrheit über die Türkei. Auch die Gruppe des neuen syrischen Machthabers Ahmed al-Sharaa, früher bekannt unter dem Kampfnamen Abu Mohammed al-Julani, hat enge Verbindungen zum türkischen Nachbarn. Die Grenzen zwischen den einzelnen Organisationen sind fliessend.

Seit gut einem Jahr hat der IS seine Angriffe auf dem Gebiet der nordostsyrischen Selbstverwaltung intensiviert. Als Reaktion darauf führen die Syrian Defense Forces (SDF), die Sicherheitskräfte in der Selbstverwaltungszone, immer wieder Razzien durch. Diese Polizeiaktionen finden vor allem in Orten mit überwiegend arabischer Bevölkerung statt, was die Spannungen zwischen den Ethnien verschärft und den Jihadisten Zulauf verschafft.

Seit dem Sieg von Donald Trump bei den US-Wahlen hat sich die Lage für die Kurden in Syrien weiter verkompliziert. Trump hatte 2019 schon einmal das damalige Militärkontingent grösstenteils aus dem Gebiet abgezogen und nur einen kleinen Rest vor Ort belassen. Kurz darauf griffen türkische Truppen im Norden der Selbstverwaltungszone an, um einen «Sicherheitskorridor» von mehreren hundert Kilometer Länge und dreissig Kilometer Breite entlang der Grenze zu schaffen.

Sorge hinsichtlich eines Abzugs der US-Truppen

Nun fürchten die Kurden, dass Trump erneut die amerikanischen Soldaten nach Hause holen könnte. Erst vor vier Jahren hatte sie Joe Biden wieder auf eine Stärke von gut 900 aufgestockt. Hauptauftrag der Truppen ist es, die Ölquellen in der Region zu sichern und dafür zu sorgen, dass sich der IS nicht wieder ausbreitet.

Für die Kurden aber ist die Anwesenheit der US-Einheiten in erster Linie Garant dafür, dass die Türkei nicht weitere Angriffe startet. Vor einigen Tagen mussten sie sich bereits aus Manbij zurückziehen und verloren damit ihre letzte Stadt westlich des Euphrats an eine türkisch unterstützte Gruppe. Der Fluss schafft vorerst eine natürliche Sperre gegen die gut organisierten Milizen, die SDF sind aber in einem Mehrfrontenkrieg.

Im Kampf gegen den IS sind viele kurdische Kräfte durch die Bewachung von Gefangenen gebunden. Erst kürzlich musste die militärische Führung der Kurden Personal in den Norden verlegen, das bisher mit der Bewachung der IS-Lager betraut war.

Wie gross die Gefahr einer Befreiungsaktion durch den IS ist, zeigte sich im Januar 2022. Nach einem Selbstmordanschlag vor dem Tor brach im Al-Sina-Gefängnis nahe Hasaka ein Aufstand los. Dabei sollen Jihadisten entkommen und mehrere hundert getötet worden sein. Die Kurden klagten später über türkische Drohnenangriffe, während sie versucht hätten, die Rebellion der Gefangenen zu beenden. Zahlreiche kurdische Wachleute, die ihnen bei dem Aufstand in die Hände gefallen waren, wurden von den Terroristen brutal hingerichtet.

Kinder als explosives Erbe des IS-Kalifats

Gefangene IS-Angehörige sind allerdings nur ein explosives Erbe des Terrorregimes in Nordostsyrien. Als das andere gelten die Kinder der Terroristen. Viele Jihadisten hatten sie dabei, als sie in das Kalifat zogen. Andere zeugten sie mit Frauen, von denen viele aus Europa und anderen Teilen der Welt stammen. Von den etwa 50 000 Frauen und Kindern des IS sollen nach Angaben der Kurden – Stand: Ende Dezember 2023 – gut 29 000 Minderjährige sein. Sie leben in den Camps al-Hol und Roj.

Vertreter der kurdischen Selbstverwaltung berichteten in Deutschland, dass sie keine Kontrolle über die Lager hätten. Vor allem im Al-Hol-Camp mit seinen knapp 50 000 Bewohnern habe der IS das Sagen. Es herrsche dort eine radikale, extremistische Ideologie, der vor allem die Kinder schutzlos ausgesetzt seien. Al-Hol sei ein kleines Kalifat geworden. Die dort ohne Schulbildung und irgendeine Perspektive aufwachsenden Kinder seien die neuen Soldaten des IS, heisst es.

Niemand weiss, was passiert, wenn die Terroristen und ihr Nachwuchs in den gegenwärtigen Wirren des syrischen Umbruchs freikommen sollten. Ein ehemaliger deutscher Diplomat und langjähriger Beobachter islamistischer Organisationen sagt, solange die Amerikaner die Hand über die Kurden hielten, sei kein Massenausbruch zu befürchten. In dem Moment aber, in dem die Türkei mit Duldung der USA die Kurden «plattmachten», sei ein Ausbruch der Terroristen nicht mehr auszuschliessen.

Er befürchtet, dass sich die IS-Leute dann den Rebellen um Ahmed al-Sharaa anschliessen könnten. Dann bestünde die Gefahr, dass es wie in Afghanistan vor drei Jahren zur Gründung eines Kalifats komme. «Ich glaube nicht, dass die europäischen IS-Terroristen in ihre Heimat zurückkehren würden», sagt der Ex-Diplomat. Das grössere Risiko für Deutschland und andere Staaten sehe er vielmehr darin, dass durch eine solche Entwicklung «die hier bereits lebenden Schläfer und andere Muslime indoktriniert und beeinflusst» würden. «Und dann haben wir den nächsten Terroranschlag in Deutschland.»

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