Freitag, Oktober 18

Ein Attentat macht die Menschen betroffen, Gefühle wie Wut, Trauer und Ekel dominieren unmittelbar danach. Doch die Wirkung lässt schon nach wenigen Wochen, wenn nicht Tagen nach.

Am 7. Juli 2005 um 8 Uhr 30 morgens stiegen vier Männer in London aus dem Zug. Eine Stunde und siebzehn Minuten später waren sie tot – und mit ihnen 52 Menschen in dem Bus und den U-Bahnen, in denen die Männer sich selbst in die Luft sprengten. 770 weitere Personen wurden durch die Anschläge der Selbstmordattentäter auf den Londoner Berufsverkehr verletzt.

Taten wie diese sollen Angst und Schrecken verbreiten und eine Gesellschaft in ihren Grundfesten erschüttern. Ob dies wirklich gelingt, darüber sind sich Sozialwissenschafter uneins.

Die einen sagen, die Menschen würden verunsichert, Misstrauen mache sich breit und aus der Angst entstünden Hass, Fremdenfeindlichkeit und totalitäre Ideen. Kurz: Die Demokratie ist in Gefahr. Andere widersprechen: Gerade in Europa sei die Gesellschaft sehr resilient, sagen sie. Wissenschaftliche Untersuchungen bestätigen das – mit Vorbehalten.

Forschung dreht sich um islamistisch motivierte Attentate

Terror ist ein vergleichsweise junges Forschungsthema. Es entstand nach den Anschlägen des 11. September 2001 in den USA, als Attentäter unter anderem zwei Flugzeuge ins World Trade Center in New York steuerten und 2977 Menschen ums Leben kamen. Seitdem wird die Wirkung von Terrorismus auf die Gesellschaft auch empirisch untersucht.

In den gut zwanzig Jahren seit dem Attentat auf das World Trade Center sind über 200 Forschungsarbeiten zu dem Thema veröffentlicht worden. Die norwegische Sozialwissenschafterin Amélie Godefroidt hat sie alle gesichtet und daraus eine vor zwei Jahren im Fachjournal «American Journal of Political Science» veröffentlichte Metaanalyse erstellt. Insgesamt wurden darin gut 400 000 Personen befragt.

Die Studien drehen sich um die Befindlichkeit und die Meinung in der westlichen Welt, also in Europa und in den USA. Obwohl Terror ausserhalb der westlichen Welt viel häufiger vorkommt, ist er dort kaum untersucht. Gut möglich also, dass seine Wirkung ausserhalb des Westens eine ganz andere ist.

Der Einfluss von Terror auf die Gesamtgesellschaft ist gering

Sicher ist: Ein Attentat macht die Menschen betroffen, Gefühle wie Wut, Trauer und Ekel dominieren unmittelbar danach. Je mehr jemand über das Attentat weiss, desto ausgeprägter sind diese Reaktionen. Doch die Wirkung lässt schon nach wenigen Wochen, wenn nicht Tagen nach.

Ob sich auch die Einstellungen der Bevölkerung verändern, versuchte die norwegische Metaanalyse herauszufinden. Sie ist die umfassendste Studie in diesem Forschungsgebiet. Sie kommt zu folgendem Schluss: Wie Menschen in den USA über ihre Regierung denken und wie sie wählen, ist beeinflusst vom islamistischen Terror. Doch sein Einfluss war ausgesprochen gering und verringert sich, je weiter 9/11 zurückliegt.

Misstrauen gegenüber Minderheiten und Sorgen um die eigene Sicherheit nahmen zu. Auf einer Skala von 0 bis 100 verändert sich die Haltung der Befragten nach einem Terrorangriff im Durchschnitt nur um ungefähr 7 Punkte. «Effektstärken in sozialwissenschaftlichen Studien sind nie besonders hoch. Doch diese Wirkung ist selbst daran gemessen noch gering», schreibt Godefroidt.

In England ist Verunsicherung noch Monate später messbar

Laut der Global Terrorism Database erlebte auch Europa im Zeitraum von 2002 bis 2018 eine substanzielle Anzahl von Terrorattacken – wovon allerdings nur ein kleiner Teil tödliche Folgen hatte. Die Bombenanschläge von London oder die Attacke auf das Satiremagazin «Charlie Hebdo», bei der 12 Menschen getötet und 11 Personen verletzt wurden, sind traurige Beispiele dafür.

Am besten untersucht sind die Reaktionen der Bevölkerung in England, wo die Menschen im Rahmen der British Election Study seit sechzig Jahren in regelmässigen Abständen befragt werden. Das Land erlebte nach den Bombenanschlägen von London noch weitere Terrorattacken. Im Jahr 2007 wurden mehrere Personen verletzt, als Terroristen ein Auto beim Flughafen in Glasgow zum Explodieren brachten. Und im Jahr 2013 verlor der Soldat Lee Rigby sein Leben, als er von zwei islamistischen Terroristen attackiert wurde.

Forscher suchten in den regelmässigen Befragungen der British Election Study rückwirkend nach dem Einfluss, den diese Terrorakte auf die Bevölkerung gehabt haben, und wurden fündig: Vor allem bei den Anschlägen von London waren die Menschen stark emotionalisiert und verunsichert. Mehr noch, die Verunsicherung war auch knapp fünf Monate nach den Angriffen noch messbar, wie die Autoren im «British Journal of Political Science» schreiben. Wie sich diese Verunsicherung im Wahlverhalten spiegelte, dazu äussern sich die Analysten hingegen nicht.

Noch keine messbaren Verschiebungen an der Urne

Denkbar ist, dass sich die Bevölkerung nach einem Terrorangriff verstärkt hinter ihre Regierung stellt und deren Massnahmen unterstützt, die Terrorattacken vermeiden sollen. Tatsächlich finden Forscher in einer Analyse des European Social Survey aus dem Jahr 2023, dass die Befragten nach einem Terrorakt mehr Vertrauen in die eigene Regierung haben als vor dem Attentat.

Was auf den ersten Blick widersprüchlich klingt, erklären Soziologen mit dem sogenannten «Rally ’round the flag»-Effekt. In der Not stützt man sich auf jene, die einem Sicherheit versprechen. Und tatsächlich kann der einzelne Bürger gegenüber Terror wenig ausrichten – er muss sich auf die Arbeit der Behörden verlassen.

Bei politischen Abstimmungen an der Urne oder in der Einstellung gegenüber Einwanderern oder anderen Minderheiten fanden die Analysten allerdings im European Social Survey keine signifikanten Verschiebungen.

Offen bleibt, ob die fraglichen Verschiebungen erst längerfristig messbar werden, wenn politische Akteure den Menschen die vergangenen Terrorakte immer wieder in Erinnerung rufen. Doch bis anhin scheint es Terroristen noch nicht gelungen zu sein, die westliche Welt mit ihrem Handeln anhaltend zu verändern.

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