Montag, Oktober 7

Der NDB warnte schon vor Solingen vor islamisierten Jugendlichen und fordert mehr Personal. Doch die Organisation hat noch mehr Probleme.

Vor ein paar Tagen gab Christian Dussey, der Direktor des Schweizer Nachrichtendienstes NDB, den Zeitungen von Tamedia ein eindringliches Interview. Er warnte vor Spionage aus Russland und China, den sicherheitspolitischen Auswirkungen der Konflikte in der Ukraine und im Nahen Osten und der zunehmenden Gefahr, die von radikalisierten Jugendlichen ausgehe.

Die Terrorgefahr, die von jihadistisch motivierten Tätern ausgehe, habe sich in den vergangenen Monaten verschärft. Seit Anfang Jahr seien in Europa bereits dreissig Personen verhaftet worden – vornehmlich Jugendliche. Das seien mehr als im gesamten Jahr 2023.

Die Aussagen des Nachrichtendienstchefs kurz vor dem Attentat von Solingen sind beunruhigend. Zumal laut Dussey in der Schweiz überdurchschnittlich viele Fälle von radikalisierten Jugendlichen registriert wurden: Im März griff ein 15-jähriger Schweizer mit tunesischen Wurzeln in Zürich einen Juden mit einem Messer an und verletzte ihn schwer. Der junge Täter war im Internet radikalisiert und manipuliert worden.

Im April wurden in Deutschland, in Schaffhausen und im Thurgau sechs potenzielle Attentäter verhaftet. Die ebenfalls im Internet radikalisierten Jugendlichen hatten im Namen des sogenannten Islamischen Staats (IS) Terroranschläge geplant. Der IS rekrutiert seine Opfer seit einigen Jahren vermehrt im Netz. Auf Gaming-Plattformen, Tiktok oder Instagram stelle er, sagt die Freiburger Extremismusforscherin Géraldine Casutt, Jugendlichen Sinnwelten zur Verfügung, in denen sich Ideologie und Gewalt mischten.

Der NDB ist also an allen Ecken und Enden gefordert. Und deshalb macht Dussey das, was vor kurzem bereits die scheidende Chefin des Fedpol, Nicoletta della Valle, gemacht hat: Er fordert mehr Personal. Der Nachrichtendienst des Bundes sei nicht nur seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 stark gefordert, sagt der NDB-Chef. Die Aufsichtsbehörden hätten bereits 2021 auf unzureichende Personalressourcen und erhebliche strukturelle Mängel hingewiesen. Der Nachrichtendienst stecke in einer dringend nötigen internen Transformation. Damit verbunden sei aber auch eine sehr grosse Belastung durch das Personal. Der NDB sei personell chronisch unterbesetzt, und das könne auch der bereits eingeleitete Transformationsprozess nicht ausgleichen.

Verheerende Personalumfrage und viele Abgänge

Damit wirft der Direktor des Schweizer Nachrichtendiensts selbst die Frage auf, ob seine Organisation der sich fast täglich verschlechternden Gefahrenlage überhaupt gewachsen ist. Versucht Dussey die Flucht nach vorne? Unwahrscheinlich ist das nicht. Denn sein Dienst steht seit längerem in der Kritik, intern wie extern. Allein auf den Personalmangel lassen sich die Probleme nicht zurückführen. Der Bundesrat bewilligte erst vor ein paar Jahren eine Aufstockung des Personals um 100 Stellen. Mit 434 Vollzeitstellen weist der NDB heute etwa doppelt so viele Stellen auf wie 2010.

Doch die von Dussey angesprochene Transformation hat ihren Preis: Laut einer Personalumfrage sagt jeder achte NDB-Mitarbeiter aus, er sei in den letzten zwei Jahren bei der Arbeit gemobbt worden. Zudem hätten die Verantwortlichen immer mehr Personal aus dem Tagesgeschäft abgezogen und für Arbeiten im Zusammenhang mit der Reorganisation eingesetzt. Damit habe sich die Schlagkraft des Dienstes massiv verschlechtert.

In der Folge verzeichnete der Nachrichtendienst nicht nur auffällig viele Kündigungen und eine Fluktuation von 8 bis 9 Prozent, sondern auch sehr viel Kritik. Am dezidiertesten äusserten sich die kantonalen Polizeikorps, die auf eine gute Zusammenarbeit mit den Spezialisten in Bern angewiesen sind. Seine Leistungen hätten «deutlich nachgelassen», schrieben sie im Winter auf Nachfrage des NDB. Eine Strategie sei «nicht klar erkennbar», die operative Unterstützung «fehlend», der Nachrichtendienst als Ganzes «nicht wahrnehmbar», die Transformation als Begründung für die Mängel «nur schwerlich nachvollziehbar».

Dussey ist es bisher noch immer gelungen, die Kritik am NDB zu zerstreuen und mit den Folgen eines Transformationsprozesses zu erklären. In einem Interview mit der NZZ diesen April sagte er: «Der tiefgründige Umbau des NDB hat zu Problemen im Austausch mit anderen Ämtern geführt, auch mit den Kantonen. Aber das ist normal.»

Im gleichen Interview verkündete Dussey weiter, die Stimmung an der Papiermühlestrasse 20 in Bern, dem Sitz des NDB, habe sich bereits wieder verbessert: «Die Befragung war ausgerechnet im Oktober 2023, als die Unsicherheit am grössten war, weil sich die Kader neu bewerben mussten.» Doch stimmt das? Laut verschiedenen Stimmen aus dem Innern des Dienstes hat der Chef die Gemütslage seiner Leute beschönigt dargestellt.

Zudem soll sich auch das Verhältnis zu den kantonalen Polizeikommandanten weiter verschlechtert haben. Ausgerechnet in einer Phase erhöhter Terrorgefahr scheint die Kommunikation unter den wichtigsten Verantwortungsträgern der inneren Sicherheit gestört zu sein. Der öffentliche Hilferuf Dusseys via Tamedia erscheint damit in einem neuen Licht.

Hat der NDB den richtigen Fokus?

Es liegt in der Natur der nachrichtendienstlichen Tätigkeit, dass die konkrete Arbeitsweise von aussen nur schwer eingeschätzt werden kann. Der NDB publiziert allerdings jährlich unter dem Titel «Sicherheit Schweiz» einen Lagebericht. Zudem stützt sich der Bundesrat in seiner ebenfalls jährlich veröffentlichten Beurteilung der Bedrohungslage weitgehend auf die Einschätzung von Dusseys Leuten. Diese beiden Dokumente erlauben begrenzte Rückschlüsse auf den Fokus des Dienstes.

Im jüngsten Lagebericht von 2023 werden der gewaltsame Extremismus und der Terrorismus nach wie vor als grosse Gefahr registriert. Der Islamische Staat und al-Kaida seien die wichtigsten Exponenten der jihadistischen Bewegung in Europa und damit auch für die Terrorbedrohung in der Schweiz massgeblich. Die Bedrohung werde aber immer diffuser. Da sie zunehmend von Individuen ausgehe, die psychische Probleme aufwiesen oder in einer persönlichen Krise steckten.

Deutlich mehr Raum nehmen im Papier die Aktivitäten Chinas und Russlands ein. Dieser Fokus ist nachvollziehbar: Die russische und die chinesische Agententätigkeit in der Schweiz sind hoch. Die kürzlich bekanntgewordene Enttarnung eines russischen Spions durch den NDB beweist das. Seit der Bundesrat die Sanktionen der EU übernommen hat, hat Russland die Schweiz zudem auch politisch im Visier.

Allerdings hat der Dienst gleichzeitig seine Kapazitäten für die Analyse der Lage im Nahen Osten abgebaut. Daran hat auch das Massaker der Hamas in Südisrael am 7. Oktober 2023 nichts geändert. In Sicherheitskreisen kursiert das Gerücht, dass sich gegenwärtig niemand mehr mit dieser strategisch auch für die Schweiz wichtigen Region beschäftige. Dem Vernehmen nach befassen sich noch zwei Mitarbeiter nebenamtlich und vor allem aus Pflichtgefühl mit den aktuellen Entwicklungen.

Die Bedrohungslage entwickelt sich auf verschiedenen Vektoren gleichzeitig: Desinformation, Terror und die geopolitischen Entwicklungen sind aufs Engste miteinander verknüpft. Die Bedeutung des NDB als erste Verteidigungslinie der Schweiz hat deshalb in den letzten Jahren noch einmal zugenommen. Dass die Unruhe um den Dienst nicht aufhört, wirkt also nicht gerade beruhigend und wenig hilfreich für einen sicherheitspolitischen Konsens.

Immerhin: In der neuesten «Beurteilung der Bedrohungslage», die der Bundesrat Ende Juni verabschiedet hat, nehmen der Nahe Osten und die möglichen Folgen des Hamas-Massakers viel Raum ein. Unter anderem wird die akzentuierte Terrorgefahr mit einer Propagandakampagne des IS erklärt, die auch die Radikalisierung von jungen Erwachsenen oder sogar Minderjährigen begünstige. Ganz blind für die Lage im Nahen Osten scheint der Dienst also nicht zu sein.

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