Donnerstag, September 19

Michael Thalheimer durchleuchtet Richard Wagners Liebesdrama «Tristan und Isolde». Weit erhellender als die minimalistische Regie wirkt aber die Musik.

Liebe auf den ersten Blick gibt es nicht, ausserhalb der Literatur. Die Psychologen sprechen von Illusion, Projektion oder Selbstbetrug – etwas, was jedenfalls kuriert werden sollte. Auch die meistzitierten Liebespaare der Geschichte hatten damit nichts als Probleme: «Er sah mir in die Augen», verrät die irische Prinzessin Isolde ihrer Freundin Brangäne. Und schon nimmt die Tragödie ihren Lauf.

Das «Blickmotiv», mit dem Richard Wagner diesen Augenblick in «Tristan und Isolde» illustriert hat, setzt sich zusammen aus einer grossen und einer kleinen Sekunde und mündet in einen hoffnungsfroh gespannten Septsprung. Eine kurze Melodie, die sich, wie schier alles in dieser Oper, aus einem einzigen, epochemachenden Leitklang ableitet, dem sogenannten Tristan-Akkord. Fast vier Stunden suchterregende Sehnsuchtsmusik gründen sich darauf – Wagner hat ihr den irreführenden Untertitel «Handlung» gegeben.

Opernregisseure haben die Wahl: Entweder sie füllen diese Nicht-Handlung Wagners auf mit Symbolik, wie es, beispielsweise, jüngst der Schauspielregisseur Thorleifur Örn Arnarsson hielt, der im Sommer den neuen Bayreuther «Tristan» von A bis Z zugemüllt hatte mit lauter bedeutungsschweren Requisiten. Oder sie versuchen, die Aporie der Liebe darzustellen.

Licht an, Licht aus

Bei Michael Thalheimer, der wie Arnarsson vom Schauspiel kommt, gibt es nicht halb so viel zu gucken. Er ist der Meister der radikalen Reduktion, man nennt sein Verfahren, wenn andere es nachahmen, inzwischen «thalheimern». Nur ein rabenschwarzer Bühnenkasten steht bereit im Grand Théâtre de Genève für seinen ersten «Tristan». Ohne Tiefe, ohne Möbel. Ohne Schiff, Segel oder Seegang, ohne Videos oder sonstigen Filmschnickschnack. Nur jede Menge Lampen hat der Bühnenbildner Henrik Ahr besorgt.

Sie kleben an der Rückwand, zwanzig mal dreizehn kreisrunde Leuchten mit verspiegelten Glühbirnen. Sind sie ausgeschaltet, erinnert diese Fläche an eine Riesenplatte Kaviar. Halb aufgedimmt, in lecker glimmendem Goldbraun, an Donuts. Aber auch solo können die Lampen an- oder ausgehen. Wie Bewegungsmelder reagieren sie auf heftige Forteschläge aus dem Graben oder sanft anschwellende Crescendi. Im Tutti indes, mit voller Power, blenden sie das Publikum im Saal und verschlucken alles, was an Sängerpersonal vereinzelt auf der Bühne herumsteht. Eine beeindruckende Installation! Und auf dieser Wand ist weit mehr in Bewegung als zwischen den beiden Liebenden.

Tristan (Gwyn Hughes Jones) steht wie ein grosser schwarzer Fels hauptsächlich am Rand der Bühne. Einsam ringt er die Hände, jederzeit fluchtbereit. Isolde (Elisabet Strid) wird mehr Präsenz zugebilligt: Sie umkreist ihn, wie ein heller Satellit, von weitem. Ein- oder zweimal dürfen die beiden sich etwas näherkommen und einander beinahe berühren. Strid ist mit ihrem souverän höhenklaren Sopran für die mörderische Partie gut gewappnet, sie dominiert hervorragend im ersten und zweiten Aufzug, wenn sie ein Gegenüber hat. Im dritten spürt man die Anstrengung.

Jones hält sich anfangs zurück, erst in den Fieberwahngesängen des dritten Aktes gibt er alles. Beide werden freilich überstrahlt von einer Debütantin: der Mezzosopranistin Kristina Stanek, die zum ersten Mal die Brangäne singt, leuchtend, stark und sicher, mit samtsüssem Timbre – und mit vollkommener Textverständlichkeit. Für ihren Wächtergesang («Habet acht, bald entweicht die Nacht!») hat Thalheimer sie aus der schwarzen Bühnenkiste in den Zuschauerraum auf den Rang verpflanzt. So tönt ihre schön gerundete Stimme wie vom Himmel hinein in die Nacht der Liebe.

Sängerfreundlich

Auch die restliche Besetzung kann sich hören lassen. Wie Kristina Stanek sind sämtliche Sänger Rollendebütanten. Tareq Nazmi gebietet als noch junger König Marke über anrührende Töne der Vergebung, Audun Iversen als Kurwenal trumpft kehlig auf, dagegen findet Emanuel Tomljenovic feine lyrische Farben für das Lied des Seemanns und Julien Hendrik heldische für den verräterischen Freund Melot. Sie alle profitieren von der sängerfreundlichen Zurücknahme, zu der Marc Albrecht das Orchestre de la Suisse Romande anhält.

Albrecht wagt trotzdem einiges mit seiner ausserordentlich dynamisch bewegten Lesart der «Tristan»-Musik. Eine französisch inspirierte Darbietung der Partitur, passend zur Grösse des Hauses: quick und transparent in jedem Augenblick, schön fliessend in den Tempi, dabei nie pastos, vielmehr durchaus sentimental die Farben der Melancholie auskostend. Herrlich blühen die solistischen Bläser auf, glänzend der helle Streicherchor, weich gestaffelt die Celli und Bässe. Und nie reisst der Spannungsbogen. Dieses Orchester, dieses Ensemble hätten auch in einer konzertanten Wiedergabe die Aufführung mühelos tragen können.

Dass man überhaupt auf solch einen ketzerischen Gedanken kommt, ist kein Kompliment für die Regie. Die Statik von Thalheimers Personenführung einerseits, der dominante Lampenladen andererseits, dazu die durch diesen eingeschränkte Spielfläche: All das bremst den theatralen Elan. Immerhin gibt es einige wenige Zeichen, die aus älteren Theaterwelten stammen, in der Könige noch bodenlange Mäntel und junge Mädchen noch weisse Brautkleider trugen. So eines trägt Isolde bei ihrem ersten Auftritt.

Während des Vorspiels schleppt sie an einem Tau ein schweres, schwarzes Podest hinter sich her: quasi den Ballast der Vorgeschichte. Noch ist sie, wie der Seemann es ihr vorsingt, eine «Magd» oder «Maid», was in der mittelalterlichen wie auch in Wagners Sprache so viel bedeutet wie: unschuldig, unberührt. Im zweiten Aufzug hat sie sich bereits in ein «Weib» verwandelt, schuldig des Ehebruchs, ihr Brautkleid ist schwarz geworden.

Und ein Stilbruch

Ausser dem Tau, das im dritten Aufzug dann vom todwunden Tristan abermals auf die Bühne geschleppt wird, tauchen vereinzelt noch weitere Requisiten auf: das von Melot geführte Messer oder das Glas für den Zaubertrank, das am Boden zerschellt. Tristan hebt eine der Scherben auf, damit sich das hohe Paar, berührungsfrei nebeneinandersitzend, in seiner Liebesnacht gepflegt die Adern öffnen kann.

Plötzlich fliesst viel rotes Theaterblut in diese verstörend sauber aufgeklärte Bühnen- und Gedankenwelt hinein. Das wirkt wie ein Stilbruch: irgendwie falsch. Mehrfach ritzen und töten sich die beiden. Und singen weiter. Auch Kurwenal, von Melot am Ende des zweiten Aufzugs überwältigt, ist im dritten schon wieder fit. Er ist der Erste und Einzige, von dem Tristan sich anfassen lässt. Sie liegen als Pietà verknäult einander in den Armen. Das ist eines der starken Bilder, die im Gedächtnis bleiben.

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