Donnerstag, Mai 15

Mit den Bombardements will Israel angeblich ein Massaker an der Religionsgemeinschaft verhindern – doch eigentlich geht es um Geopolitik.

Am Morgen des 2. Mai erschüttert eine Explosion das Zentrum von Damaskus. Nur fünfhundert Meter vom Präsidentenpalast entfernt geht eine israelische Rakete in den Hügeln der syrischen Hauptstadt nieder. Es ist ein Signal Israels an den neuen Machthaber Ahmed al-Sharaa: Er kann jederzeit selbst zum Ziel der israelischen Luftwaffe werden, die Syrien seit dem Sturz des Asad-Regimes regelmässig bombardiert.

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«Wir werden nicht zulassen, dass syrische Streitkräfte südlich von Damaskus aufmarschieren oder die Gemeinschaft der Drusen bedrohen», erklärt Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu wenige Stunden nach dem Angriff.

In den Tagen vor der «gefährlichen Eskalation», wie die Regierung in Damaskus den Angriff bezeichnete, war es im Süden Syriens zu schweren Gefechten zwischen drusischen Milizen, Sicherheitskräften der Regierung und sunnitischen Kämpfern gekommen. Auch hier eilte Israel laut eigenen Angaben den Drusen mit Luftangriffen zu Hilfe. Die Frage stellt sich: Geht es Israel um das Schicksal der Drusen – oder um etwas ganz anderes?

Israel will Sicherheit

Zumindest die Aussagen einiger israelischer Regierungsmitglieder geben Anlass zu der Vermutung, dass Israel ein anderes Ziel verfolgt. Wenige Tage vor der Bombardierung in Damaskus sagte etwa der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich, dass Israel seine Angriffe erst einstellen werde, wenn Syrien «aufgeteilt» sei.

Stunden nach dem Sturz des syrischen Diktators Bashar al-Asad hatte Israel massive Luftangriffe im nördlichen Nachbarland geflogen. Es zerstörte dabei Waffen und militärische Infrastruktur der syrischen Armee. Zudem marschierten israelische Soldaten in die entmilitarisierte Zone im syrisch-israelischen Grenzgebiet ein. Offenbar ist die Besetzung auf Dauer angelegt: Satellitenbilder zeigen, dass Israel Militäranlagen in Syrien errichtet hat.

Arabische Diplomaten und Sicherheitsexperten argwöhnen schon länger, dass Israel mit seinen Angriffen die Autorität der Regierung in Damaskus untergraben und die Stabilität im neuen Syrien schwächen wolle. Der israelische Syrien-Experte Assaf Orion widerspricht. «Israel hat in Syrien vor allem Sicherheitsinteressen», sagt der Forscher am Washington-Institut für den Nahen Osten. «Israel will nicht diktieren, was in Syrien vor sich geht.»

«Syrien unter Asad war berechenbar»

Auch zu Zeiten von Bashar al-Asad hatte Israel immer wieder Waffendepots und Schmuggelrouten der libanesischen Schiitenmiliz Hizbullah angegriffen. Die Regierung in Jerusalem verfolgte eine Strategie, die von einer gefühlten und realen Bedrohung ausging. «Dieses Element ist immer noch sehr präsent», sagt Orion. «Hinzu kommt, dass Israel seit dem 7. Oktober sehr viel stärker auf Pufferzonen und Prävention setzt.»

Nach dem Sturz des Asad-Regimes hat die israelische Luftwaffe ihre Angriffe in Syrien intensiviert – obwohl die neue syrische Regierung selbst stark gegen den Hizbullah und iranische Einflüsse vorgeht. Orion erklärt das mit der gestiegenen Unsicherheit: «Syrien unter Asad war berechenbar, aus israelischer Sicht stabil.» Die Handlungen der jetzigen islamistischen Führung seien viel schwieriger vorherzusehen. Israel bekämpfe daher jegliches Bedrohungspotenzial – inklusive Truppenpräsenz der syrischen Regierung südlich von Damaskus. Indem Israel die Drusen unterstütze, treibe es die angestrebte Demilitarisierung an der Grenze zu den israelisch besetzten Golanhöhen voran.

Bis heute weigern sich die meisten Angehörigen der drusischen Minderheit in Syrien, ihre Waffen abzugeben. Ihnen fehlt das Vertrauen in die sunnitisch-islamistische Regierung – vor allem, nachdem im März bei Massakern an der Küste des Landes über tausend Alawiten getötet wurden. Manche Drusen befürworten daher tatsächlich die israelischen Angriffe. Andere Angehörige der Religionsgemeinschaft, die sich im 11. Jahrhundert von der schiitischen Sekte der Ismailiten abgespalten hatte, sprechen sich jedoch für die Einheit Syriens und ein Ende der Interventionen aus.

Israel gegen die Türkei

Noch ein weiterer Faktor spielt eine Rolle: Seit dem Fall des Asad-Regimes ist Syrien zum Schauplatz einer Auseinandersetzung der beiden Regionalmächte Israel und Türkei geworden. Mit dem Aufstieg von Syriens Präsident Ahmed al-Sharaa konnte das Land unter Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Macht in Syrien ausbauen. Obwohl die Türkei und Israel diplomatische Beziehungen unterhalten, sind diese seit dem Beginn des Gaza-Kriegs auf einem Tiefpunkt angelangt, da sich Erdogan dezidiert propalästinensisch geäussert hat. Ende März flehte der türkische Präsident gar Gott an, dieser möge das «zionistische Israel» zerstören.

Angesichts dieser Positionierung des engsten Verbündeten der neuen syrischen Machthaber ist Israel auf der Hut. Und: Es signalisiert Erdogan genau, wo seine Grenzen liegen. Besonders sichtbar wurde das, als Israel Anfang April die sogenannte T4-Militärbasis nahe der syrischen Stadt Homs bombardierte. Die Türkei verhandelt derzeit ein Verteidigungsabkommen mit Syrien. Es kursierten Gerüchte, dass Ankara auf der Basis Flugzeuge stationieren will.

«Natürlich dürfen wir der Türkei nicht erlauben, einen Militärflugplatz in Syrien zu betreiben, der unsere Luftüberlegenheit im Nahen Osten bedrohen würde», sagt Anan Wahabi, ein israelischer Reserve-Oberst und Forscher am Institut für Terrorismusbekämpfung der Reichman-Universität. Israelische Sicherheitsexperten befürchten, dass die Türkei – ähnlich wie Iran mit seinen Stellvertreter-Milizen – sunnitische Kämpfer in Syrien gegen Israel in Stellung bringen könnte.

Die Drusen in Israel – ein politischer Faktor

Der angebliche Schutz der Drusen ist also primär ein Vorwand Israels, um sicherheits- und geopolitische Interessen durchzusetzen. Daneben gibt es allerdings auch innenpolitische Gründe für Israels derzeitige Syrien-Politik. Rund 150 000 Drusen leben im Norden des jüdischen Staates. Sie gelten als sehr loyal – die meisten männlichen Angehörigen der arabischsprachigen Minderheit dienen im israelischen Militär. So habe die Gemeinschaft der Drusen in Israel aktiv für die Unterstützung ihrer Glaubensbrüder in Syrien getrommelt, sagt Anan Wahabi, der selbst Druse ist.

Obwohl die Drusen nur 1,5 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen, darf im tief gespaltenen Israel der politische Einfluss dieser Gruppe nicht unterschätzt werden. Netanyahu erhofft sich offenbar, mit seiner Unterstützung für die syrischen Drusen die drusische Gemeinschaft im eigenen Land auf seine Seite zu ziehen. Diese stand dem rechten Ministerpräsidenten bisher eher ablehnend gegenüber: Bei einem Besuch in der Drusen-Stadt Majdal Shams im vergangenen Jahr wurde Netanyahu angeschrien und beschimpft.

Eine mögliche israelisch-syrische Kooperation?

Die Interessen Israels und des neuen syrischen Regimes gehen grösstenteils weit auseinander. Während Ahmed al-Sharaa Stabilität und einen starken Zentralstaat will, könnte sich Israel am ehesten mit einer Autonomie der freundlich gesinnten Drusen im Süden Syriens abfinden, wodurch eine Art Pufferzone geschaffen würde. Allerdings darf eins nicht vergessen werden: Iran und der schiitische Hizbullah sind sowohl dem syrischen Regime als auch Israel ein Dorn im Auge.

Langfristig ist nicht ausgeschlossen, dass beide Seiten entlang dieser gemeinsamen Feindschaft eine Koexistenz vereinbaren. Zumindest existieren dafür erste Voraussetzungen. Bei seinem Besuch in Frankreich vergangene Woche bestätigte Sharaa, dass seine Regierung unter Vermittlung der Vereinigten Arabischen Emirate indirekte Gespräche mit Israel aufgenommen habe.

Auch Israels wichtigster Verbündeter USA will nun offenbar Stabilität in Syrien. Bei seinem Besuch in Saudiarabien kündigte Donald Trump am Dienstag ein Ende der amerikanischen Syrien-Sanktionen an. Und Israel dürfte es vermeiden wollen, Trumps Zorn auf sich zu ziehen. In den vergangenen Tagen gab es keine Luftangriffe mehr.

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