Sonntag, September 8

Während die Terrormiliz im südlichen Gazastreifen unter Druck steht, ist sie im Norden wieder erstarkt. Derweil scheinen beide Seiten an einem neuen Abkommen interessiert – doch die Hürden sind gross.

Rund einen Monat ist es her, dass der israelische Verteidigungsminister angekündigt hat, die Intensität der Kriegsführung zumindest im Norden des Gazastreifens zu reduzieren. Die dortigen Hamas-Bataillone seien weitgehend zerschlagen, weshalb man nun zu einem gezielteren Vorgehen übergehen könne. Mitte Januar stellte Yoav Gallant zudem in Aussicht, dass das Gleiche bald auch im südlichen Gazastreifen der Fall sein könnte.

Inwiefern Gallants Ankündigungen auch umgesetzt wurden, ist schwierig zu verifizieren. Die Lage bleibt unübersichtlich. Nun scheinen von unabhängigen Wissenschaftern erhobene Daten die Aussagen aber zu bestätigen. Anhand von Satellitendaten werten die amerikanischen Experten in regelmässigen Abständen aus, wie sich die Oberflächenbeschaffenheit in besiedelten Gebieten verändert, und sie können so das Ausmass der Zerstörung erfassen.

Dabei zeigt sich, dass seit Anfang Januar die Zerstörung markant nachgelassen hat. Besonders im Norden des Gebiets hat sich die Fläche mit nachweisbaren Beschädigungen kaum mehr vergrössert. Stärker betroffen sind der zentrale Gazastreifen um die Stadt Deir al-Balah sowie die Stadt Khan Yunis im Süden.

Israel zieht einen Teil seiner Truppen aus Gaza ab

Trotzdem ist die Zerstörung, die durch den Krieg bisher entstanden ist, enorm. Insgesamt wurden laut den amerikanischen Wissenschaftern mindestens 60 Prozent der Gebäude in dem Küstenstreifen beschädigt oder zerstört. Besonders gross sind die Schäden in der Stadt Gaza und ihren Vororten im Norden. Die weitreichende Zerstörung ist in erster Linie auf die massiven israelischen Luftangriffe der vergangenen Monate zurückzuführen. Zudem haben die israelischen Streitkräfte (IDF) Hunderte von Gebäuden gezielt gesprengt.

Laut Israel befindet sich die Bodenoffensive im Gazastreifen in der letzten Phase

Nicht nur die Zerstörungskraft der Offensive hat nachgelassen, Israel setzt auch deutlich weniger Soldaten ein. In den vergangenen Wochen haben die IDF mehrere Bataillone und damit Tausende von Soldaten abgezogen, insbesondere im Norden des Gazastreifens. Dies erfolgte nicht nur aus militärischen Überlegungen, sondern auch aus wirtschaftlicher Notwendigkeit. Die Abwesenheit Zehntausender Reservisten hatte sich auf dem israelischen Arbeitsmarkt bemerkbar gemacht.

Nicht zuletzt dürfte der Strategiewechsel aber auch auf internationalen Druck zurückzuführen sein. Insbesondere die USA hatten immer wieder gefordert, angesichts der hohen Zahlen ziviler Opfer und der massiven Zerstörung die Intensität der Kämpfe zu reduzieren.

Tausende fliehen vor Angriffen aus Khan Yunis

Trotzdem finden weiterhin heftige Gefechte im Gazastreifen statt. Dabei steht vor allem die Stadt Khan Yunis im Fokus. Nach Angaben der Armee verfügt die Hamas dort über ein riesiges Tunnelnetzwerk. Während sich die IDF zu Beginn des Krieges kaum in die Tunnel gewagt hatten, finden nun laut Medienberichten immer mehr Kämpfe unter dem Boden statt. Die Armee hofft, dadurch mehr Informationen über die Aufenthaltsorte von Geiseln und hochrangigen Hamas-Führern zu erhalten.

Gemäss einem Bericht des «Wall Street Journal» gehen israelische und amerikanische Beamte aber davon aus, dass immer noch bis zu 80 Prozent des Tunnelsystems im Gazastreifen intakt sind. Versuche, die Tunnel mit Meerwasser zu fluten, waren offenbar wenig erfolgreich.

Jüngst hat die Armee auch die Bevölkerung in Gebieten im Westen von Khan Yunis zur Evakuierung aufgerufen und rückt dort seit Ende Januar weiter vor. Tausende von Menschen flohen weiter Richtung Süden, wo die Flüchtlingslager bereits übervoll sind.

Die Bevölkerung im Gazastreifen wird immer wieder zur Evakuierung aufgerufen

In dem betroffenen Gebiet befinden sich auch zwei der noch funktionierenden Spitäler sowie das Hauptquartier des Palästinensischen Roten Halbmonds. Immer wieder gibt es Berichte von schwerem Beschuss rund um die Krankenhäuser, wo nach wie vor Tausende Zivilisten Schutz suchen.

So bleibt auch die Zahl der täglich gemeldeten Opfer anhaltend hoch. Laut dem der Hamas unterstellten Gesundheitsministerium sind seit Kriegsbeginn mehr als 27 000 Menschen getötet worden, wobei nicht zwischen Hamas-Kämpfern und Zivilisten unterschieden wird.

Jeden Tag sterben mehr als hundert Menschen im Gazastreifen

Zahl der täglich neu getöteten Palästinenser und Palästinenserinnen seit Anfang Januar

Hamas-Chef Haniya zu Verhandlungen in Kairo

Während sich die israelische Armee vor allem auf den Süden konzentriert, haben es palästinensische Milizen laut übereinstimmenden Berichten geschafft, wieder im Norden Fuss zu fassen und Angriffe zu verüben. Die reduzierte israelische Truppenpräsenz scheint ihnen dabei entgegenzukommen.

Die israelischen Truppen reduzieren ihre Präsenz im Norden und fokussieren die Kämpfe auf Khan Yunis

Die israelischen Truppen reduzieren ihre Präsenz im Norden und fokussieren die Kämpfe auf Khan Yunis

Der britische «Guardian» spricht gar davon, dass sie eine neue Offensive vorbereiten würden. Allerdings handle es sich um eher kleine Zellen. Trotzdem zeigt sich, dass die IDF nur schwer gegen die Guerilla-Taktiken der Hamas ankommen. Der Erreichung ihrer Kriegsziele – die Zerschlagung der Hamas und die Befreiung der Geiseln – ist die Armee offensichtlich kaum näher gekommen.

Angesichts der verfahrenen Lage scheinen nun beide Seiten wieder Interesse an einem Abkommen zu haben. Schon seit Wochen kursieren Gerüchte über eine Einigung, die eine Feuerpause sowie die Befreiung von Geiseln umfassen würde. Mal ist von einigen Wochen die Rede, mal von mehreren Monaten. Mal heisst es, Israel habe den Bedingungen der Hamas eine Absage erteilt, mal soll es umgekehrt sein.

Trotzdem sprechen Beobachter davon, dass es Bewegung in der Sache gebe. So soll Ismail Haniya, der Hamas-Chef im Exil, für Verhandlungen in Kairo sein. Der grösste Knackpunkt ist offenbar die Forderung der Hamas nach einer unbefristeten Waffenruhe. Israel weigert sich, den Krieg vorzeitig zu beenden.

Das «Sicherheitsnetz» von Yair Lapid

Krieg oder Geiseln? Die israelische Regierung steht vor einem Dilemma, das bereits zu Verwerfungen innerhalb des Kriegskabinetts geführt hat. Während Ministerpräsident Benjamin Netanyahu zumindest gegen aussen den kompromisslosen Hardliner gibt, argumentiert der Ex-General Benny Gantz, die Befreiung der Geiseln müsse Priorität haben. Seit Wochen sind die beiden nicht mehr gemeinsam aufgetreten.

Denn Netanyahu steht auch vonseiten seiner rechtsextremen Koalitionspartner unter Druck. So droht etwa Sicherheitsminister Ben-Gvir damit, die Koalition platzen zu lassen, sollte Netanyahu einem «rücksichtslosen» Abkommen zustimmen. Daraufhin meldete sich der Oppositionspolitiker Yair Lapid zu Wort und bot ein «Sicherheitsnetz» für die Regierung an. Will heissen: Im Falle eines Rückzugs von Ben-Gvir nach einer Einigung mit der Hamas würde seine Partei der Koalition beitreten und Netanyahu vor Neuwahlen retten.

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