Zehn Wochen lang gelangten keine Lebensmittel in den Gazastreifen. Nun wollen Israel und die USA einen neuen Mechanismus zur Verteilung von Hilfsgütern implementieren – doch Hilfsorganisationen üben scharfe Kritik.

Während in Katar weiterhin über einen Waffenstillstand im Gazastreifen verhandelt wird, treibt Israel seine am Wochenende lancierte Grossoffensive mit dem Übernamen «Gideons Streitwagen» unbeirrt voran. Am Montag hat die israelische Armee einen Evakuierungsbefehl für die Grossstadt Khan Yunis im Süden des Küstenstreifens veröffentlicht und vor einem «präzedenzlosen Angriff» gewarnt. Von der Aufforderung sind wohl Zehntausende Palästinenser betroffen, die nun unter prekären Bedingungen eine neue Unterkunft suchen müssen.

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Die humanitäre Lage im Gazastreifen bleibt katastrophal. Doch in den kommenden Tagen könnte sich die Ernährungssituation der palästinensischen Zivilbevölkerung zumindest ansatzweise verbessern: Am Sonntagabend hat Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu angekündigt, dass ab sofort wieder eine begrenzte Menge an Hilfsgütern nach Gaza gelassen werde. Zuvor hatte Israel während zehn Wochen sämtliche Hilfslieferungen blockiert, um Druck auf die Hamas auszuüben.

Laut Netanyahu ist der Entscheid erfolgt, «um eine Hungerkrise im Gazastreifen zu verhindern, die die Fortsetzung der Offensive gefährden würde». Vorerst bleibt aber unklar, wie umfangreich die Lieferungen sein werden und ob sie die enormen Bedürfnisse der 2,2 Millionen Palästinenser abdecken können. Gegenüber der Nachrichtenagentur AP sagte ein anonymer Uno-Beamter, dass am Montag 20 Lastwagen mit Lebensmitteln nach Gaza gelangen sollen – während der Waffenruhe im Frühjahr waren es täglich mehr als 600 LKW gewesen.

Verteilzentren in israelisch kontrolliertem Gebiet

Bei den nun bewilligten Lieferungen dürfte es sich allerdings nur um eine temporäre Massnahme handeln. Denn in den kommenden Tagen wollen die USA in Kooperation mit Israel einen völlig neuen Mechanismus zur Verteilung von Lebensmitteln und Hygieneprodukten implementieren, um der Hamas die Kontrolle über die humanitäre Hilfe zu entziehen. Koordiniert werden soll das neue System von einer Stiftung namens «Gaza Humanitarian Foundation» (GHF), die ihren Sitz in Genf hat.

Die GHF hat jüngst mitgeteilt, dass sie ihre Arbeit noch vor Ende Mai aufnehmen werde. Gemäss einem Dokument, das angeblich von der Stiftung stammt, sollen in einer ersten Phase vier sogenannt sichere Verteilzentren errichtet werden, die 1,2 Millionen Menschen versorgen können – also nur 60 Prozent der Bevölkerung des Gazastreifens. Gegenüber CNN sagte Jake Wood, der Leiter der Stiftung, dass man später weitere Zentren eröffnen wolle, um damit alle Menschen in Gaza zu erreichen. Laut Berichten sollen dort einzelne Vertreter von palästinensischen Familien nach einem Sicherheitscheck Boxen mit Mahlzeiten für mehrere Tage abholen können.

Der Bau dieser Verteilzentren hat offenbar bereits Anfang Mai begonnen. Auf Satellitenbildern, die von der BBC veröffentlicht wurden, sind umfangreiche Erdarbeiten im südlichen Gazastreifen zu sehen. An mehreren Orten wurden grosse Flächen freigeräumt, die von hohen Wällen umgeben sind. Sie alle befinden sich in einem Gebiet, das von den israelischen Streitkräften (IDF) kontrolliert ist. Laut Mike Huckabee, dem amerikanischen Botschafter in Israel, werden die IDF allerdings nicht an der Verteilung der Hilfsgütern beteiligt sein, sondern lediglich das Umland absichern.

In den Zentren selbst sollen laut dem GHF-Dokument «erfahrene Professionelle» für Sicherheit sorgen. Offenbar handelt es sich dabei um zwei private Sicherheitsfirmen aus den USA, die schon während der jüngsten Waffenruhe einen Checkpoint im Gazastreifen mit Veteranen der US Army bemannt hatten.

Ein Schweizer Anwalt gehört zu den GHF-Gründern

Die Hintergründe der «Gaza Humanitarian Foundation» bleiben derweil opak. Von der Stiftung existieren weder eine Website noch weitere Kontaktangaben. Im Genfer Handelsregister ist ersichtlich, dass sie erst am 31. Januar dieses Jahres gegründet wurde. Unter den drei Gründungsmitgliedern figuriert auch der Schweizer Anwalt David Kohler, der für die Kanzlei OA Legal an der Place de Longemalle 1 in Genf arbeitet. An derselben Adresse war bisher auch die GHF registriert – inzwischen heisst es allerdings, die Stiftung sei «ohne Domizil». David Kohler hat auf mehrere Anfragen der NZZ nicht reagiert.

Jake Wood, der Direktor der Stiftung, ist seinerseits ein Veteran der amerikanischen Marine und Leiter der Stiftung «Team Rubicon», die auf Katastrophenhilfe spezialisiert ist. Im Verwaltungsrat sitzt zudem Nate Mook, der ehemalige CEO der humanitären Organisation World Central Kitchen. Laut dem GHF-Dokument soll auch David Beasley als Berater an Bord geholt werden – der Amerikaner hatte zwischen 2017 und 2023 das Welternährungsprogramm der Uno geleitet. Noch steht eine Zusage allerdings aus.

Nach eigenen Angaben will die GHF eigentlich mit internationalen Hilfsorganisationen kooperieren, die in den vergangenen Monaten im Gazastreifen tätig waren. Bis jetzt gab es allerdings nur Absagen. Viele NGO kritisieren, dass die GHF gemeinsame Sache mit den israelischen Kriegsplänen mache. Die Uno verweist darauf, dass sich das neue System nicht mit den Prinzipien der Unparteilichkeit und der Neutralität vereinbaren lasse. Der Uno-Nothilfekoordinator Tom Fletcher bezeichnete den Plan als «ein Feigenblatt für weitere Gewalt und Vertreibung» der Palästinenser.

Darauf angesprochen sagte GHF-Direktor Jake Wood gegenüber CNN, dass die humanitäre Gemeinschaft vor einer Wahl stehe: «Seid ihr bereit, mitzumachen? Die Antwort wird ziemlich entscheidend dafür sein, ob wir 2,2 Millionen Menschen in einer sehr verzweifelten Situation ausreichend ernähren können.» Laut Medienberichten hat die Regierung von Donald Trump in den vergangenen Wochen massiven Druck auf Hilfsorganisationen ausgeübt, sich dem Projekt anzuschliessen – und angedroht, andernfalls die amerikanischen Beiträge zu kürzen.

Kritik an Hilfslieferungen

Die kommenden Tage werden zeigen, ob und wie das neue System tatsächlich umgesetzt wird. Derweil hat Netanyahus Ankündigung, wieder Hilfslieferungen zuzulassen, in Israel gemischte Reaktionen hervorgerufen. Während Israels Präsident Isaac Herzog die «Menschlichkeit» des Schritts begrüsste, kritisierte der rechtsextreme Sicherheitsminister Itamar Ben Gvir, dass damit der Hamas Sauerstoff gegeben werde.

Netanyahu präzisierte am Montag, dass der Schritt erfolgt sei, weil die Berichte über den Hunger im Gazastreifen die internationale Unterstützung für Israel beeinträchtigt hätten. «Wir werden die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen übernehmen», versicherte er. «Um dies zu erreichen, müssen wir es so tun, dass sie uns nicht stoppen können.»

Mitarbeit: Adina Renner, Jan Ludwig

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