Die Vorwürfe des Internationalen Strafgerichtshofs gegen Benjamin Netanyahu, seinen Verteidigungsminister und drei Hamas-Führer sind heftig. Politiker aller Lager in Israel sehen in dem Schritt eine Gleichstellung ihrer Regierung mit Terroristen.
Die Entscheidung hing seit Wochen in der Luft, am Montagmittag machte Karim Khan sie öffentlich: Der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) beantragt bei den Richtern des Gerichts Haftbefehle gegen zwei Mitglieder der israelischen Regierung sowie drei Führungspersonen der Hamas. Der Chefankläger Khan erklärte in seiner Pressekonferenz, dass er und seine Mitarbeiter in den letzten Monaten im Rahmen ihrer unabhängigen Untersuchung genug Beweise gesammelt hätten, wonach die betroffenen Personen Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hätten.
Grosse Entrüstung auf beiden Seiten
Dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu sowie seinem Verteidigungsminister Yoav Gallant wirft Khan unter anderem vor, in ihrer Antwort auf den Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober die Zivilbevölkerung im Gazastreifen auszuhungern, absichtlich Angriffe auf Zivilisten auszuführen und wissentlich grosses Leid und Verletzungen zu verursachen.
So würden der Bevölkerung im Gazastreifen systematisch überlebenswichtige Güter vorenthalten, etwa durch die zeitweise komplette Schliessung der Grenzübergänge. Auch den Tatbestand der Ausrottung sehen Khan und seine Mitarbeiter als gegeben an. Die Verbrechen würden bis heute fortgesetzt, sagte er. Israel habe das Recht, seine Bevölkerung zu verteidigen und die Rückkehr der Geiseln sicherzustellen. Aber diese Rechte befreiten Israel nicht von seiner Pflicht, internationales Recht zu befolgen.
Aufseiten der Hamas betreffen die Haftbefehle Yahya Sinwar, den Chef der Hamas in Gaza, Mohammed Deif, den Anführer des militärischen Armes der Hamas, sowie Ismail Haniya, den politischen Führer der Terrororganisation. Alle drei hätten den Angriff am 7. Oktober nicht nur geplant, sie hätten ihre Verantwortung durch ihre Worte und ihr Verhalten auch anerkannt, argumentierte Khan. Er legt den Hamas-Führern unter anderem Ausrottung, Geiselnahmen, sexuelle Gewalt und Folter sowie grausame Behandlung von Gefangenen zur Last. Sie seien direkt verantwortlich für die Tötung israelischer Zivilisten am Tag des Angriffs.
Khan hob ausserdem hervor, dass er und seine Mitarbeiter genügend Beweise gesammelt hätten, wonach die Hamas die Geiseln unter unmenschlichen Bedingungen halte und manche von ihnen abscheuliche sexuelle Gewalt erlebt hätten.
Khans Auftritt rief sowohl in Israel als auch aufseiten der Hamas Entrüstung hervor. In einer Videobotschaft sprach Ministerpräsident Netanyahu am Montagabend von einem «absurden und falschen» Haftbefehl, der sich gegen den ganzen Staat Israel richte. Es handle sich dabei um ein Beispiel des «neuen Antisemitismus», der sich von amerikanischen Universitäten nach Den Haag verlagert habe. Der Versuch des Gerichts, «uns die Hände zu binden», werde scheitern, und Israel werde den totalen Sieg erringen.
Benny Gantz, oppositioneller Politiker im Kriegskabinett und derzeit einer der grossen Kritiker der israelischen Kriegsführung, sagte, man führe einen gerechten Krieg, in dem man sich an einen «der striktesten moralischen Codes in der Geschichte» halte. Parallelen zwischen den Anführern eines demokratischen Landes und jenen einer blutrünstigen Terrororganisation zu ziehen, sei «eine tiefe Verzerrung der Gerechtigkeit» und eine «offenkundige moralische Bankrotterklärung», sagte Gantz. Auch der Oppositionsführer Yair Lapid kritisierte die Gleichstellung von Hamas-Führern und israelischen Politikern und nannte die Entscheidung des ICC einen furchtbaren politischen Fehler.
In einer von dem Sender Al-Aksa verbreiteten Stellungnahme äusserte auch die Hamas Kritik an dem ICC-Entscheid. Er vergleiche das Opfer mit einem Henker und ermutige die (israelische) «Besatzung», den «genozidalen» Krieg fortzusetzen, hiess es.
Wie reagieren Israels Partner?
Unmittelbar hat die Entscheidung des ICC keine Folgen. Die Richter werden den Anträgen des Anklägers Khan wohl stattgeben. Doch weder Israel, das den Internationalen Strafgerichtshof nicht anerkennt, noch die Hamas werden die betroffenen Personen nach Den Haag ausliefern. Reisen ins Ausland dürften für sie allerdings schwierig werden, sofern ein Zielland zu den Vertragsstaaten des ICC gehört. Dessen Behörden wären verpflichtet, die zur Fahndung ausgeschriebenen Personen festzunehmen. Diese Einschränkung trifft die beiden Israeli eher als die drei Hamas-Kader. Letztere halten sich vorwiegend in arabischen Staaten auf, die keine Vertragsstaaten sind.
Für Israel ist das Vorgehen des Internationalen Strafgerichtshofs vor allem politisch ein schwerer Schlag. Unter dessen Partnern sind mehrere ICC-Vertragsstaaten. Die USA, der wichtigste Verbündete Israels, gehört allerdings nicht dazu. Bereits Ende April hatte eine Gruppe von zwölf republikanischen Senatoren dem ICC-Chefankläger in einem Brief unter anderem mit persönlichen Konsequenzen gedroht, sollte dieser Haftbefehle gegen Vertreter des israelischen Staates beantragen.
In diesem Sinne reagierte der republikanische Senator Lindsey Graham als einer der Ersten am Montag. Er schrieb, der Entscheid sei ein Schlag ins Gesicht der Justiz in Israel, die für ihre Unabhängigkeit bekannt sei. Khan sei betrunken von seinem Geltungsdrang und habe mit dem Schritt dem Friedensprozess viel Schaden zugefügt.
Der amerikanische Präsident Joe Biden nannte das Vorgehen des ICC-Chefanklägers derweil «ungeheuerlich». Was auch immer Khan implizieren wolle: «Es gibt keine Gleichwertigkeit – keine – zwischen Israel und der Hamas.» Die USA würden stets an der Seite Israels stehen, sollte dessen Sicherheit bedroht sein.