Montag, November 17

Propalästinensische Aktivisten haben an mehreren europäischen Gerichten Anzeige gegen israelische Armeeangehörige erstattet. Als Grundlage dienen ihnen Aufnahmen aus dem Gazastreifen, die von den Soldaten selbst erstellt wurden.

Gazastreifen, November 2023: Vier israelische Soldaten positionieren sich schwer bewaffnet vor der Kamera. Einer von ihnen macht in dem Video eine klare Ansage an Israels Ministerpräsidenten: «Wir werden nicht aufhören. Wir werden weitermachen, bis wir unsere Mission beenden: erobern, vertreiben und besiedeln. Hast du mich verstanden, Bibi? Erobern, vertreiben und besiedeln!»

Während «Bibi» – Benjamin Netanyahu – sich in Bezug auf Israels langfristige Pläne für den Gazastreifen bedeckt hält, sind die Kriegsziele dieses Soldaten unmissverständlich: Die Palästinenser sollen vertrieben und der Gazastreifen völkerrechtswidrig besiedelt werden.

Es sind Aufnahmen wie diese, die den israelischen Behörden zunehmend Sorgen bereiten. Denn sie sind nicht nur in grosser Zahl vorhanden, sondern werden mittlerweile auch dazu verwendet, israelische Soldaten im Ausland juristisch zu verfolgen.

Aufnahmen aus Kriegsgebieten sind nicht mehr wegzudenken

Eigentlich ist es israelischen Soldaten nicht gestattet, Videos und Fotos ihrer Einsätze aufzunehmen und in den sozialen Netzwerken zu verbreiten. Viele tun es dennoch und filmen mitunter wüste Szenen. Nur wenige Wochen nach dem Hamas-Überfall und dem Kriegsausbruch berichtete etwa die israelische Zeitung «Haaretz» von mehreren Videos, die gewalttätige Übergriffe israelischer Soldaten auf gefangene Palästinenser zeigten. In anderen Aufnahmen posieren Armeeangehörige neben Leichen oder setzen palästinensische Häuser in Brand. Im Februar 2024 rief Israels Generalstabschef Herzl Halevi die Soldaten dazu auf, «keine Rachevideos zu drehen».

Auch die Terroristen der Hamas hatten bei ihrem brutalen Überfall vom 7. Oktober 2023 die Macht der Bilder ausgenutzt. Indem sie ihre Greueltaten aufzeichneten und online verbreiteten, riefen sie noch mehr Leid und Grauen in der israelischen Gesellschaft hervor.

In einem kürzlich veröffentlichten Bericht hat die «Washington Post» mehr als 120 Bilder und Videos untersucht, die israelische Soldaten selbst aufgenommen und in den sozialen Netzwerken geteilt hatten. Laut der Zeitung zeigen diese Videos mögliche Verstösse gegen Richtlinien der israelischen Streitkräfte (IDF) oder sogar gegen das Kriegsvölkerrecht.

Wohl auch wegen solcher Videos haben die IDF laut israelischen Medienberichten am Mittwoch rund 30 Armeeangehörige vor Reisen in mehrere europäische Staaten gewarnt. Es handelt sich um Soldaten und Offiziere, die im Gazastreifen kämpften. In mindestens 8 Fällen sollen die IDF zudem Armeeangehörige, die sich bereits im Ausland befanden, zur Rückreise angewiesen haben. Die Armee befürchtet angeblich, dass der Internationale Strafgerichtshof (ICC) sowie lokale europäische Gerichte nach den umstrittenen Haftbefehlen gegen Netanyahu und Yoav Gallant auch Armeeangehörige ins Visier nehmen und strafrechtlich verfolgen könnten.

Propalästinensische Aktivisten klagen israelische Soldaten an

Die Sorge ist berechtigt: In letzter Zeit haben Dutzende propalästinensische Organisationen und Aktivisten sowohl vor dem ICC als auch vor lokalen Gerichten Anzeige gegen israelische Soldaten erstattet. Deren Videoaufnahmen dienen den Aktivisten oft als Grundlage, um rechtlich gegen sie vorzugehen.

Eine der prominentesten Organisationen, die so vorgeht, ist die Hind-Rajab-Stiftung mit Sitz in Belgien. Sie ist nach einem sechsjährigen palästinensischen Mädchen benannt, das im Januar 2024 bei einer israelischen Militäraktion in Gaza-Stadt getötet wurde. Vertreten wird die Stiftung vom niederländischen Strafrechtsanwalt Haroon Raza sowie von ihrem Gründer, dem äusserst umstrittenen belgischen Schriftsteller und Aktivisten Dyab Abou Jahjah.

Laut eigenen Angaben erstattete die Stiftung Anfang Oktober Anzeige gegen 1000 israelische Armeeangehörige vor dem ICC, basierend auf 8000 Videoaufnahmen israelischer Soldaten. Die Stiftung erstattete auch Anzeige bei lokalen Gerichten und Behörden.

Am vergangenen Dienstag beschwerte sich die Organisation bei der belgischen Regierung zudem über die Ernennung von Moshe Tetro als Verteidigungsattaché Israels in Brüssel. Tetro war bisher Chef der israelischen Behörde Cogat, die für die Verwaltung der besetzten Gebiete zuständig ist. Die Aktivisten werfen Tetro vor, in seiner Funktion für «das Aushungern und die Angriffe auf Spitäler in Gaza» verantwortlich gewesen zu sein.

Weltrechtsprinzip als Grundlage für mögliche Verhaftungen

Grundsätzlich können Staaten nur dann gegen Individuen strafrechtlich vorgehen, wenn der mutmassliche Täter oder das Opfer die Staatsbürgerschaft besitzt oder das Delikt auf dem Gebiet des Staates begangen wurde. Deshalb zielen die propalästinensischen Aktivisten in mehreren Fällen auf Israeli mit doppelter Staatsbürgerschaft ab.

Allerdings könnten auch Israeli ohne Doppelbürgerschaft Verhaftungen drohen. Dann nämlich, wenn ein Staat das sogenannte Weltrechts- oder Universalitätsprinzip anwendet. So kann etwa die Schweiz bei besonders schweren Straftaten wie Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen Individuen vorgehen – unabhängig vom Tatort oder von deren Nationalität.

Israelische Medien sprechen beim Vorgehen der propalästinensischen Aktivisten von Stalking und Gefährdung. Die israelische Zeitung «Ynet» etwa berichtete Ende November von 35 000 geleakten Identitäten israelischer Armee- und Geheimdienstmitarbeiter. Angeblich glichen auch gewalttätige Jugendliche bei den Ausschreitungen in Amsterdam Anfang November die Identitäten israelischer Fussballfans mit online verfügbaren Listen israelischer Soldaten ab.

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