Sonntag, Oktober 6

Um eine tödliche Epidemie in dem Küstengebiet abzuwenden, haben Israel und die Hamas eine vorübergehende Feuerpause vereinbart. Täglich sollen einige Stunden die Waffen schweigen, um die Kinder gegen das Virus zu impfen.

Mit Bulldozern, Panzerwagen und Drohnen geht die israelische Armee in den Flüchtlingslagern des Westjordanlands weiter gegen militante Palästinenser vor. Bei dem grössten Militäreinsatz seit 2002 wurden in der Moschee von Tulkarem am Donnerstag fünf palästinensische Terroristen bei einem Schusswechsel getötet, unter ihnen ein seit Jahren gesuchter lokaler Hamas-Anführer. Die israelischen Spezialkommandos durchsuchten mehrere Häuser des von Flüchtlingen bewohnten Armenviertels der 70 000-Einwohner-Stadt.

Empört berichten Augenzeugen von der vorübergehenden Festnahme mehrerer Ärzte und Sanitäter des Roten Halbmonds, die aus den Nachbarstädten angerückt waren. Auf den sozialen Netzwerken kursierten Videos eines brennenden Hauses, zu dem die Armee die Feuerwehr nicht durchliess. In Jenin wurde Wissam Khassim durch eine israelische Drohne getötet. Der Palästinenser war laut dem israelischen Geheimdienst Shin Bet der ranghöchste Kommandant in Jenin.

An den Wänden der mehrstöckigen Khalid-Ibn-Walid-Moschee von Jenin fanden israelische Patrouillen Bilder von bei Armeerazzien getöteten Kämpfern. In der Nacht auf Freitag begannen Bulldozer, kleinere Gebäude auf dem Grundstück abzureissen. Damit scheint die Armee im Westjordanland – wie von Aussenminister Ismail Katz gefordert – die bereits im Gazastreifen erprobte Strategie der Abschreckung durch Zerstörung der Infrastruktur umzusetzen.

Die Bulldozer zerstören auch Wasser- und Stromleitungen

Mit massiven Haken versehene Bulldozer rissen am Freitag in Jenin, Tubas und Tulkarem den Asphalt auf und zerstörten dabei auch Strom- und Wasserleitungen. «Die Zerstörung der Infrastruktur soll abschreckende Wirkung auf uns haben», sagt Ahmed Tobasi, der künstlerische Leiter des Freiheitstheaters von Jenin. «Aber ich glaube eher, dass sie leider mehr junge Männer in die Arme der Milizen treibt. Das ist ein grosses Problem für ein Nachkriegsszenario.»

Die Flüchtlingslager waren nach der israelischen Staatsgründung 1948 entstanden. Auch 76 Jahre später gelten ihre Bewohner weiter als Flüchtlinge. Meist sind die Lager nur wenige Quadratkilometer gross. Sie sind längst mit dem Rest der Städte zusammengewachsen und äusserlich nicht als Flüchtlingslager zu erkennen. Doch der rechtliche Status der Bewohner ist noch geringer als derjenige der übrigen 5,5 Millionen Palästinenser im Westjordanland und im Gazastreifen.

Die Häuser der Palästinenser, die in dritter oder vierter Generation mit dem Flüchtlingsstatus leben, wurden ohne Genehmigung errichtet. Für die Bildung und die medizinische Versorgung ist das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNRWA verantwortlich. An Hauswänden von Jenin und Tulkarem prangen Graffiti, die eine Rückkehr in die heute israelischen Hafenstädte Haifa und Jaffa fordern. Daher sind die Lager ultrarechten israelischen Politikern ein Dorn im Auge.

Die Hamas rekrutiert neue Kämpfer in den Lagern

Im Westjordanland teilen sich die palästinensische Autonomiebehörde von Präsident Mahmud Abbas und die israelische Armee die Macht. Die palästinensische Zivilgesellschaft kritisiert zwar die illegale israelische Besatzung des Westjordanlandes, fürchtet aber auch die Radikalisierung der eigenen Jugend. Die Hamas und andere militante Gruppen nutzen die Armut, die Arbeitslosigkeit und die angespannte soziale Situation in den Flüchtlingslagern, um junge Kämpfer zu rekrutieren.

Tobasi hält die Bedrohung für die Armee aber für begrenzt. «Die in den letzten Jahren eingesickerten Waffen dienen eher als Abschreckung zwischen den Gruppierungen, für die israelische Armee sind sie keine ernstzunehmende Gefahr», sagt der Theaterdirektor aus Jenin. «Hier ist sogar die Meinung verbreitet, dass die Waffen aus israelischen Beständen stammen. Denn nur eine gewisse Terrorgefahr rechtfertigt das immer offensivere Vorgehen der Armee.»

Im Gazastreifen droht ein Ausbruch von Polio

Im Gazastreifen hoffen die Bewohner derweil auf eine Verbesserung der Lage. Die israelische Armee hat offenbar ihre einwöchige Offensive rund um die Stadt Khan Yunis beendet. 250 Hamas-Kämpfer seien dabei getötet und ein sechs Kilometer langer Tunnel sei zerstört worden, sagte ein Armeesprecher. Während die Bewohner in den nächsten Tagen in das Gebiet zurückkehren können, soll eine von der Armee und den Vereinten Nationen vereinbarte Impfkampagne gegen Polio beginnen.

In der vergangenen Woche war in Gaza erstmals ein Baby an dem lebensgefährlichen und hochansteckenden Virus erkrankt. Neben Polio breiten sich aufgrund des dramatischen Wassermangels und der schlechten hygienischen Lebensumstände auch Hautkrankheiten, Hepatitis und andere chronische Leiden unter den 2,2 Millionen Palästinensern aus. Auch für die israelischen Soldaten ist Polio eine Bedrohung. Rik Peeperkorn von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mahnte, ein ausser Kontrolle geratenes Virus kenne keine Grenzen.

Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu lehnt ein Ende der Kämpfe ab, stimmte jedoch ebenso wie die Hamas-Führung in Gaza für die humanitäre Waffenruhe. Am Sonntag soll nun eine mehrstündige Feuerpause in Kraft treten, um die Impfkampagne zu ermöglichen. In von der Armee festgelegten südlichen, mittleren und nördlichen Abschnitten sollen für jeweils drei Tage die Waffen schweigen. Ein Zeitfenster zwischen 6 und 15 Uhr soll den WHO-Teams die Chance geben, 640 000 Kinder unter zehn Jahren zu impfen.

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