Mittwoch, Oktober 9

Die Hamas befeuerte mit dem Massaker am 7. Oktober eine neue Form des Antisemitismus, die an Universitäten grassiert. Das globale Übel ist dabei die sogenannte weisse Vorherrschaft, der weisse Mann der Inbegriff des Bösen – und Israel trägt diese Erbsünde.

Auf einem Bahnhof fragt ein Jude: «Entschuldigung, mein Herr, sind Sie Antisemit?» – «Was fällt Ihnen ein, Sie Rüpel? Gleich knallt’s!» Er fragt weiter, bis schliesslich jemand sagt: «Jawohl! Ich kann dieses verdammte Pack nicht ausstehen!» Der Jude erwidert: «Endlich ein ehrlicher Mensch. Können Sie bitte kurz auf meinen Koffer aufpassen?»

Die Pointe? Am Antisemitismus hängt nach dem Holocaust ein mächtiges Tabu. Was 2000 Jahre lang Kulturinventar war, ist schambesetzt und wird verdrängt oder verkleidet. Das ist laut Nietzsche «menschlich, allzu menschlich»; Freud würde im Unbewussten stochern, Schuldabwehr und -übertragung diagnostizieren.

Nach dem Hamas-Massaker an 1200 Israeli am 7. Oktober begann bald die Wut gegen Israel zu toben. Die Hamas wurde zum Opfer verklärt, der Judenstaat zum Aggressor. Ist die Täter-Opfer-Umkehr Antisemitismus?

Was ist Kritik, was Verfemung?

Die vertraute Antwort lautet, dass man Israel kritisieren dürfe – wegen Gaza, des Westjordanlands, Netanyahu. Darf man – wie man jeden Staat geisseln könnte, der nicht der Kantschen Moral gehorcht. Doch was ist legitime Kritik, was Verfemung? Der Unterschied zwischen jeglichem Antiismus und Rüge besteht aus vier Teilen.

Erstens der Stereotypisierung («so sind die»), zweitens der Obsession («so denkt es in mir – ich kann nicht anders»), drittens der Dämonisierung («die sind grundsätzlich böse») und viertens der Doppelmoral («wir legen an X härtere Massstäbe an als an andere Völker»).

Bleiben wir bei Punkt vier und der Verdammung des Judenstaates nach dem Hamas-Massaker. Die Empörung gegen Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hält sich in Grenzen, auch nach der Bombardierung des Kiewer Kinderkrankenhauses im Juli. Wer demonstriert gegen China, das Uiguren (Muslime) und Tibeter (Buddhisten) im eigenen Land verfolgt?

Die einzigartige Anklage gegen Israel – «Siedlerkolonialismus», gar «Genozid» – kündet von einem verbogenen Massstab und von Geschichtsvergessenheit. Das Land ist kein «Licht unter den Völkern» (Jesaja 42,6), wenn es seit der Staatsgründung um sein Überleben kämpfen muss. Doch einen kosmischen Halunken gibt der Judenstaat nicht her. Landraub und Unterwerfung sind so alt wie die Menschheit. Der Streitwagen rollte Tausende Jahre vor dem Panzer – siehe die Imperien Ägypten, Babylon, Assyrien, Persien.

Die Muslime haben Nordafrika und Iberien unterjocht. Die Mongolen herrschten über ein Grossreich vom Pazifik bis zur Donau. China hat tausend Jahre lang Vietnam besetzt. Die Türken haben 400 Jahre lang die Araber (ebenfalls Muslime) geknebelt. Wie wurde aus dem kleinen Grossherzogtum Moskau das grösste Land auf Erden? Mit Dutzenden von russifizierten Nationalitäten.

Den modernen «Siedlerkolonialismus» haben die Europäer erfunden. Sie haben sich Amerika und Ozeanien gegriffen, Afrika unter sich aufgeteilt. Diese Historie besagt keinesfalls, dass ein Unrecht das andere aufhebt, sondern verweist auf die Selektivität der Empörung. Wieso ist der «kleine Satan» laut Iran der Teufel in Staatsgestalt? Der «höchste Führer» Khamenei nennt Israel einen «Tumor», der «ausgeschnitten und vernichtet» werden müsse.

Spitzenplatz als Reich des Bösen

Warum skandieren Studenten von Berlin bis Berkeley allein gegen den Judenstaat? Russland wurde in den neunziger Jahren nicht vor den Internationalen Strafgerichtshof gezerrt, als Putin zweimal in Tschetschenien einfiel, wo bis zu 200 000 umkamen. Einen Haftbefehl muss er auch heute nicht fürchten. Das Grauen wütet in Jemen und im Sudan; es gibt keine Demos für die Opfer.

Als Reich des Bösen nimmt Israel den einsamen Spitzenplatz ein. Klassiker des Antiismus wie Dämonisierung und Doppelmoral lassen sich nicht wegdrücken, wenn das sogenannt zionistische Gebilde nicht irgendein, sondern der einzig jüdische Staat ist, wenn Synagogen und jüdische Studenten attackiert werden, wenn sie Kippa und Davidstern verstecken müssen und die Chöre brüllen: «From the River to the Sea».

«Vom Jordan bis zum Mittelmeer» signalisiert nicht Kritik, sondern Finis Israel. Wo sollen die sieben Millionen Juden hin – nach Polen oder in die muslimischen Länder, die sie vertrieben haben? Die Parole verheisst «ethnische Säuberung». Die Jungen kennen die Hamas-Carta von 1988 nicht, die Muslimen befiehlt, Juden zu töten, wo immer sie sich verstecken. Ein Sprecher der Hamas, Ghazi Hamad, sagt: «Wir müssen dieses Land auslöschen, weil es eine Katastrophe für die islamische Nation ist.» Nach dem 7. Oktober sagt er: «Wir werden es immer wieder tun.»

Der zelebrierte Literat Salman Rushdie sinniert: «Jeder Mensch muss wegen Gaza und der vielen unschuldigen Opfer verzweifelt sein.» Aber die Hamas sei eine terroristische Organisation. Deshalb sei es bizarr, dass die junge Linke eine faschistische Terrortruppe unterstütze, einen Taliban-ähnlichen Staat.

«Vom Jordan bis zum Meer» bedeutet «judenrein» – eine klassisch-antisemitische Losung. Die Variante 1.0 war religiös, hatten die Juden doch angeblich den Heiland ermordet und die Hostie geschändet. 2.0 war die rassistische Version von Arthur de Gobineau bis Houston Stewart Chamberlain, der Hitler inspirierte. 3.0 aber hat weder mit Glauben noch mit Rasse zu tun.

Durch die Brille des Postkolonialismus

Schlagen wir nach bei Rainer Werner Fassbinder. In «Der Müll, die Stadt und der Tod» doziert Hans von Gluck: Der Jude «setzt uns ins Unrecht, weil (. . .) wir die Schuld tragen. Und Schuld hat der Jud, weil er uns schuldig macht (. . .) so denkt es in mir.» Der Spruch bezieht sich auf Deutschland nach dem Sechs-Millionen-Mord, lässt sich aber auf die westliche Welt übertragen.

Betrachten wir 3.0 durch die Linse von Sigmund Freuds Abwehr- und Projektionsmechanismen, sodann durch die Brille des Postkolonialismus, der seit einer Generation an den Universitäten serviert wird. Auf den Punkt gebracht: Das globale Übel sei die sogenannte weisse Vorherrschaft, der weisse Mann der Inbegriff des Bösen.

Was aber hat der mit den Juden zu tun, die gerade einmal 0,19 Prozent der Weltbevölkerung ausmachen? Sie in der Gestalt Israels als globalen Schurken zu stilisieren, ist wohlfeile Selbstentlastung vom westlichen Kolonialismus. Israel hat einiges auf dem Kerbholz – von der Besiedelung des Westjordanlandes bis zum Rassismus der Ultras in der gegenwärtigen Koalition. Doch wie reinigt sich der Westen von seinen Sünden seit Beginn des 16. Jahrhunderts?

Folgt man dem heutigen Credo, müssten die Europäer auf der Anklagebank sitzen. Den Opfern des Imperialismus würde ein «maxima mea culpa» gebühren. Die Europäer haben Nordamerika kolonisiert, die Ureinwohner dezimiert. Wenn also die Israeli aus ihrer Heimat verschwinden müssen, dann doch auch 350 Millionen Yankees und Kanadier. Das wäre die logische Wiedergutmachung, doch das ist absurd. Also muss die Ersatzhandlung her. Zu ertragen ist nur symbolische Austreibung.

Die Nachfahren der Opfer von gestern

Statuen von amerikanischen Nationalhelden werden gekippt, weil sie Sklaven gehalten hatten. Der Urimperialist Churchill muss weg. Im Hörsaal müssen die sogenannten Unterdrücker ihre «Privilegien» bekennen. Auch Juden, die Nachfahren der Opfer von gestern.

Der Gewinn sind Zerknirschung und Abbitte. Was hat die Campus-Besetzer befeuert? Die Faculty of Arts and Sciences in Harvard bietet knapp sechzig Lehrangebote, die Kolonialismus mit Vorsilben wie neo- und post- sowie Abstrusitäten wie Dekolonialisierung plakatieren. Dasselbe geschieht in diversen anderen Institutionen, die Indoktrination als Bildung feilbieten. Die Universität Washington ermahnt Zöglinge dazu, «Rassismus, Imperialismus und Siedlerkolonialismus» aufzuspüren. Gleiches gilt für europäische Hochschulen.

Derlei Exerzitien verschleiern eine eiskalte islamistische Machtpolitik, die nichts mit Moral zu tun hat. Zur Wahrheitsfindung gehört es, die alles überragenden strategischen Interessen der Iraner und ihrer Heloten Hamas und Hizbullah zu durchschauen. Seit der Machtergreifung der Mullahs 1979 schwingt Teheran die Palästina-Flagge für die eigenen Ambitionen. Es geht nicht um Gerechtigkeit, sondern um Vorherrschaft vom Golf bis zur Levante.

Das Kalkül könnte zynischer nicht sein. Die Hamas wusste, dass das Massaker vom 7. Oktober einen Vergeltungsschlag provozieren würde. Der Zorn der Welt sollte Israel zum Paria machen, den Frieden mit Kairo, Amman und den Golfstaaten zerstören. «Wir sind stolz darauf, unsere Märtyrer zu opfern», verkündete Ghazi Hamad.

Israel trägt die Erbsünde

Dieses blutrünstige Spiel zu durchschauen, erfordert keine Analyse des Militärhistorikers Carl von Clausewitz. Auch erfassen die Entrüsteten nicht die Funktion der westlichen Selbstreinigungsideologie, die sie in der Uni gefüttert bekommen. Der Jude verkörpert nicht mehr den falschen Glauben wie im Antisemitismus 1.0 oder wie in 2.0 das Untermenschentum. In 3.0 trägt Israel die Erbsünde des Westens. Auf einem Anti-Israel-Plakat während einer Demonstration an der New York University steht: «Genozid, Besetzung, Kolonisierung, weisse Vorherrschaft, ethnische Säuberung». Die Last muss der israelische Sündenbock tragen.

«Der Wunsch, Israel auszulöschen», spekuliert der israelische Religionswissenschafter Tomer Persico, «ist Therapie, ja Erlösung vom Fluch der Geschichte.» Erlöser sterben bekanntlich. Mit der mächtigsten Armee in Nahost ist Israel nicht das «Lamm Gottes», aber doch der «universelle Jude» im Staatsformat, der für die Frevel des Westens geradestehen muss.

Ist das Antisemitismus? Wie will man im Unbewussten harte Beweise finden? «Die Juden und die Radfahrer sind an allem schuld», behauptet da ein braver Bürger. «Richtig», sagt der andere, «aber warum die Radfahrer?» Ein letzter Sarkasmus. Im Musical «Anatevka» seufzt der Milchmann Tewje: «Lieber Gott, wir sind dein auserwähltes Volk. Aber kannst du dir nicht ab und zu ein anderes aussuchen?»

Josef Joffe ist ein deutscher Publizist. Er hat an den Universitäten Harvard, Stanford und Johns Hopkins Politik gelehrt.

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