Freitag, Oktober 4

Sie haben die Leichen ermordeter Partygänger gesehen, enge Freunde verloren, Kugeln abbekommen – und jetzt stellt sich die grosse Frage: Wie soll es bloss weitergehen?

«Ich habe immer gedacht, das reine Böse existiert nicht. Nun weiss ich es besser.» Der Blick von Yotam Fast schweift über die grünen Hänge des Üetlibergs. Doch in Gedanken ist er zurück in jenen Tagen im letzten Oktober, die sein Leben verändert haben. Die ganz Israel verändert haben. Was er damals gesehen hat, lässt ihn nicht mehr los.

Auf Einladung von Schweizer Juden ist Fast mit sechs anderen Soldaten der israelischen Armee hierhergekommen. Sie alle sind vom Krieg gezeichnet, einige humpeln und brauchen Stöcke. Ihre Narben zeugen von den Verletzungen, die sie im Kampf erlitten haben. Mindestens so schlimm sind jedoch die Wunden in ihrer Psyche. Sieben Tage lang sollen die Kämpfer Ruhe finden, Abstand zu ihrem schwierigen Alltag in Israel.

Nun sind sie zu Gast bei einer jüdischen Familie in Adliswil, der Tisch ist reich gedeckt mit koscherem Essen. Während Yotam Fast erzählt, spielt einer seiner Kameraden auf dem Klavier die melancholischen Töne von Leonard Cohens «Hallelujah».

Pures Chaos am 7. Oktober

Fast ist Anfang 40, Offizier der Reserven der israelischen Streitkräfte (IDF). Am 7. Oktober des letzten Jahres, einem Samstag, ist er mit seiner Familie in den Ferien im Norden Israels. Am Morgen ruft ihn seine Schwester an: Terroristen sind nach Israel eingedrungen. Fast bringt seine Frau und die drei Kinder nach Hause in den Kibbuz Kalia am Toten Meer im Westjordanland und fährt nach Süden, zu seiner Infanterieeinheit.

Es herrscht pures Chaos. Den ganzen Samstag warten Fast und seine Soldaten auf Befehle. Erst am Sonntag geht es los: Sie sollen Kreuzungen an der Strasse 232 kontrollieren, einer der Haupteinfallachsen der Hamas-Kämpfer, die parallel zum Gazastreifen verläuft. Und sie sollen die Leichen getöteter Israeli finden. Dabei kommen sie auch auf das Gelände des Nova-Festivals, wo die Hamas 364 junge Leute ermordet hat.

Fast stösst auf Leichenteile, die auf dem Boden verstreut sind, und auf die Körper von Menschen, die vergeblich versucht haben, im Auto dem Massaker zu entkommen. «Die schrecklichen Bilder sind in meinem Kopf eingebrannt», sagt er.

Am 10. Oktober suchen Fast und sein Team in der Nähe des Kibbuz Mefalsim nach einer vermissten Frau. In einem Obstgarten werden sie von drei Hamas-Kämpfern überrascht, die sich dort versteckt haben. Sie schiessen, eine Kugel trifft Fast in der Lunge, zwei am Bein. Er denkt: Das war’s. Aber seine Soldaten retten ihn. Fünf Monate liegt Fast im Spital, bevor er zurück zu seiner Familie kann.

Yotam Fast schläft schlecht. Er leidet nicht nur an den Folgen seiner Verletzungen, sondern auch an der Ungewissheit: Wird er je wieder als Betriebsleiter arbeiten können? Was wird aus seiner Familie? Das Schicksal ihres Vaters belastet auch seine drei Kinder im Alter von sechs bis elf Jahren stark, sie gehen wie er in die Psychotherapie. In der Schweiz versucht Fast, endlich etwas Ruhe zu finden.

Spenden von Orthodoxen und Liberalen

Möglich gemacht haben das Henia Breslauer und ihr Mann Richard, ein Bankdirektor und Dozent für jüdische Studien. Er ist in Zürich geboren, sie stammt aus Israel. «Ich wollte immer etwas tun für die Leute in meiner Heimat», sagt Henia Breslauer. So gründeten sie und ihr Mann vor 28 Jahren eine Organisation, die Kriegsinvalide in die Schweiz holte. Später kamen auch Gruppen von Eltern hinzu, die ihre Söhne im Krieg verloren hatten. Und behinderte Kinder. Die Reisen finanzieren die Breslauers durch Spenden aus der jüdischen Gemeinschaft, sowohl von orthodoxen wie von liberalen Kreisen.

Die Gruppe von diesem Jahr ist speziell: Zum ersten Mal sind es Soldaten, die noch vor kurzem gekämpft haben und nach der Rehabilitation zurück ins Militär möchten. Breslauer weiss aus Gesprächen mit vielen Soldaten, dass die körperlichen Verletzungen verkraftbar sind – sogar der Verlust eines Beins: Sie bekämen in Israel hervorragende Prothesen. «Aber die Traumata kann man nicht so leicht kurieren.»

Nach dem Treffen in Adliswil fahren die sieben Soldaten ins Haus in Villars im Kanton Waadt, wo sie untergebracht sind. Das Programm ist dicht gedrängt, in Les Diablerets oder Genf sollen sie auf andere Gedanken kommen. Vier Tage nach dem Besuch in Zürich machen sie einen Abstecher nach Frankreich, zur Aiguille du Midi oberhalb von Chamonix. Aus dem geplanten Gleitschirmflug wird nichts, es windet zu stark.

Auf 3800 Metern über Meer entrollen die Israeli ein Transparent, um an die Geiseln in Gaza zu erinnern. Sie singen religiöse Lieder. Und zelebrieren die Freundschaft unter Waffenbrüdern, die sich gegenseitig die Kraft geben wollen, mit ihrem Schicksal fertigzuwerden. Als sie dem Fotografen ihre Narben präsentieren, witzeln sie, das sei für die Erotikplattform Onlyfans.

Schreckliche Szenen in den Dörfern

Fröhlich wirkt auch Dvir Shtemer, trotz allem: Erst vor wenigen Wochen ist er im Gazastreifen schwer verletzt worden und hat seinen engen Freund Amit verloren.

Shtemer ist 21 Jahre alt und stammt aus einer Familie, die bis zur Räumung der Siedlungen 2005 im Gazastreifen lebte. Er ist Fallschirmjäger, seine Einheit beginnt am 8. Oktober, besetzte Ortschaften in Israel zu befreien. Er erblickt verbrannte Kinderkörper, geschändete Leichen, auch die Hunde und Katzen sind tot. «Am Anfang ist man noch voller Adrenalin und funktioniert einfach. Erst nach einer Woche habe ich realisiert, was wir da alles gesehen haben.»

Shtemer ist danach sechs Monate lang im Gazastreifen im Einsatz, seine Einheit kämpft sich von Haus zu Haus. An einem Tag im August sucht er zusammen mit Amit in einem Kinderzimmer nach versteckten Waffen. Sein Freund öffnet eine Schranktür und löst damit eine Sprengfalle aus. Er ist auf der Stelle tot. Shtemer wird durch die Wucht der Explosion aus dem Zimmer geschleudert und landet zwei Etagen tiefer auf der Strasse. Er hat Verletzungen am Fuss, am Knie und an der Hüfte. Aber er lebt. «Ich hatte unglaubliches Glück», sagt Shtemer.

Er ist direkt aus der Rehabilitation in die Schweiz gekommen und wird danach in die Klinik zurückkehren. Wie die meisten seiner Kameraden findet Shtemer in der Nacht keine Ruhe. «Ich habe so viele Freunde in diesem Krieg verloren, ich will nur, dass das endlich aufhört. Alle wollen das. Aber wir müssen unser Land verteidigen.» Shtemer hat psychologische Hilfe bekommen. «Doch ich brauche das nicht», sagt er. «Mir geht’s gut.»

«Alle sind deprimiert»

Boaz Kashi bezweifelt das: «Sie sind in irgendeiner Form alle deprimiert und traumatisiert», sagt er über seine sechs Kollegen. Der 51-Jährige hat eine Sonderrolle in der Gruppe. Er soll sich als Sozialarbeiter und Therapeut um die Aufarbeitung des Erlebten kümmern. Auch er wurde verwundet – vor fast dreissig Jahren bei einem Einsatz in Libanon.

Kashi war Scharfschütze, und seine Einheit sollte 1995 einen Anschlag mit einem mit Sprengstoff beladenen Auto verhindern, von dem der Geheimdienst erfahren hatte. Sie verkleideten sich als Araber und gingen über die Grenze. Zwei Tage lang lag Kashi auf der Lauer, dann kamen die Terroristen auf dem Weg nach Israel. Er erschoss sie, Auftrag erledigt. Doch ihre Gegner hatten seine Position ausgemacht und deckten ihn mit Granaten ein. Splitter trafen Kashi am Bein. Acht Operationen waren nötig, um ihn wiederherzustellen.

Doch seine Sniper-Karriere war vorbei. Bis sich im jetzigen Krieg ein befreundeter Kommandeur an ihn erinnerte. Er fragte Kashi, ob er bei einer Mission im Gazastreifen dabei wäre. Kashi sagte zu. Als er am Vorabend des geplanten Einsatzes das schnelle Aufstehen üben sollte, sackte er zusammen. Die alte Verletzung war wieder aufgebrochen, die nächste Operation wurde nötig.

Nun will Kashi seine Kameraden dazu motivieren, über ihre Traumata zu sprechen. In Villars sind dafür lange Abendstunden vor dem Kaminfeuer eingeplant. Die Soldaten sollen nicht im Selbstmitleid versinken und Angst vor der Zukunft haben, sondern neue Perspektiven entwickeln – so wie er es einst selbst geschafft habe. «Meine Verletzung gehört zu meinem Leben, ich habe das akzeptiert.»

Ein rechter Siedler

Kashi ist verheiratet, hat sechs Kinder, von denen zwei derzeit in der Armee dienen. Er lebt in Psagot, einer nach internationalem Recht illegalen Siedlung im Westjordanland. Als Einziger in der Gruppe trägt er eine Kopfbedeckung. Es ist die gehäkelte Kippa der nationalreligiösen Zionisten. Entsprechend macht er aus seiner Abneigung gegen die Palästinenser kein Geheimnis. «Am 7. Oktober haben sie ihr wahres Gesicht gezeigt.»

Wie Kashi stehen die meisten Mitglieder der Gruppe weit rechts. Nur ein Soldat kommt aus einer linken Familie und findet, Regierungschef Netanyahu müsse weg. Doch Politik spiele unter den Kameraden, die in der Schweiz zusammengefunden haben, keine Rolle, sagt Dvir Shtemer: «Wir sprechen nicht darüber.» Er höre zwar in den Nachrichten immer wieder von der Zerrissenheit seines Landes. Aber er spüre davon nichts. «Dieser Krieg hat uns zusammengeschweisst.»

Henia Breslauer sagt, sie habe innerhalb der jüdischen Gemeinschaft noch nie kritische Stimmen zu ihrem Engagement gehört. Sie weiss, dass lange nicht alle in der Schweiz israelische Soldaten als Opfer betrachten. So sähen propalästinensische Gruppen sie eher als Täter, manche sogar als Verantwortliche eines «Genozids» an der Bevölkerung von Gaza.

Doch davon will Breslauer nichts wissen: «Es war die Hamas, die unschuldige Menschen in ihren Betten abgeschlachtet und 250 Geiseln entführt hat, die unter schrecklichsten Bedingungen vor sich hin vegetieren müssen, wenn sie überhaupt noch leben.» Israel wehre sich nur – und Soldaten wie Yotam Fast oder Dvir Shtemer führten diesen schwierigen Kampf. Dafür gebühre ihnen Dank.

Solidarität hebt die Moral

Nach sieben Tagen reisen die Soldaten wieder zurück. Aus Israel meldet sich Boaz Kashi. Die Zeit in der Schweiz habe enorm geholfen, sagt er. «Einige konnten endlich wieder fröhlich sein, an etwas anderes denken als an den Krieg.» Und die grosse Solidarität, die sie bei den Begegnungen mit den jüdischen Gemeinden gespürt hätten, sei enorm wichtig für die Moral.

Kashi würde auch nächstes Jahr gerne eine Gruppe von verwundeten Soldaten in die Schweiz bringen. «Es haben sich schon viele gemeldet, die davon gehört haben und unbedingt dabei sein wollen.»

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