Mittwoch, Oktober 2

Der israelische Diplomat Ron Prosor kündigt eine «angemessene Antwort» Israels auf den iranischen Raketenangriff an. Ein Gespräch über den Krieg im Nahen Osten, Judenhass im Gewand der politischen Korrektheit und gutgemeinte Ratschläge deutscher Politiker.

Herr Botschafter, Iran hat Raketen auf Israel gefeuert. Die Revolutionswächter des Landes teilten mit, der Angriff sei Vergeltung für die Tötung des Hizbullah-Chefs Hassan Nasrallah. Sind Sie überrascht?

Der Angriff am Dienstagabend ist das letzte Glied in einer lange Kette des Staatsterrorismus. Ich mache mir über das Wesen der Mullahs keine Illusionen. Aber Europa muss jetzt endlich aufwachen: Teheran will die Eskalation. Stellen Sie sich vor, was los wäre, wenn Iran über Atomwaffen verfügen würde.

Wie wird Israel reagieren?

Die Mullahs und Ayatollahs sind eine Gefahr für die ganze Welt, nicht nur für Israel. Jetzt haben sie sich die Finger verbrannt, und wir werden darauf eine angemessene Antwort finden. Zusammen mit unseren Verbündeten müssen wir diese Bedrohung beseitigen.

In der deutschen Politik herrscht Uneinigkeit darüber, ob die Tötung des Hizbullah-Chefs in Israels Interesse war oder nicht. Was sagen Sie?

Nasrallah war der Usama bin Ladin Libanons. Sein Tod ist ein Wendepunkt, der die Libanesen aus dem Würgegriff des Hizbullah und Irans befreien muss. Dafür brauchen die Libanesen die Unterstützung Europas.

Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock hat gesagt, dass der Tod Nasrallahs «in keinster Weise im Interesse der Sicherheit Israels» sei.

Was im Interesse der israelischen Sicherheit ist, entscheidet Israel allein. Diejenigen, die nicht sehen, dass die Schwächung des Hizbullah eine historische Chance auch für Europa ist, müssen dringend ihren Blick schärfen.

Gibt es auch deutsche Politiker, deren Ratschläge Sie schätzen?

Dazu möchte ich lieber nichts sagen.

Warum?

Weil ich nicht als Nächstes Botschafter in Abuja, Nigeria, sein möchte (lacht). Im Ernst: Alle, die Israel Ratschläge geben, können davon ausgehen, dass wir unsere Nachbarn nicht schlechter kennen als andere. Wir haben es nicht so gern, wenn man uns erklärt, wie wir unser Volk zu verteidigen haben; wir haben darin viel Erfahrung. Israel ist seit seiner Gründung ständig im Krieg.

Wie erleben Sie die gegenwärtige Berichterstattung deutscher Medien?

Vor kurzem habe ich einen sogenannten Nahostexperten in den «Tagesthemen» gesehen, der sagte, Frieden sei besser als Krieg. Was für ein Genie, habe ich gedacht. Natürlich ist Frieden besser als Krieg. Gesund und reich sein ist auch besser als krank und arm sein. Aber mit der Hamas ist kein Frieden möglich. Ganz einfach.

Angela Merkel hat 2008 als Kanzlerin gesagt, Israels Sicherheit gehöre zur deutschen Staatsräson. Ihr Nachfolger Olaf Scholz hat dieses Bekenntnis wenige Tage nach dem Massaker des 7. Oktober 2023 wiederholt. Hält die Bundesregierung Wort?

Deutschland ist unser zweitwichtigster strategischer Partner. Aber in einer Zeit, in der Israel um sein Überleben kämpft, könnte Deutschland mehr tun, um dem Begriff Staatsräson gerecht zu werden.

Die Vereinten Nationen haben gerade erst eine Resolution verabschiedet, in der unter anderem ein Waffenembargo gegen Israel gefordert wird. Deutschland hat sich bei der Abstimmung enthalten.

Dafür habe ich kein Verständnis. Wir brauchen Deutschland als Partner in den internationalen Gremien, nicht als neutralen Beobachter. Bei der Uno, die ich sehr gut kenne, findet auch eine Schlacht statt, ohne Waffen, aber mit Worten. Es geht um die Dämonisierung und die Delegitimierung Israels. Und es gilt kein Doppel-, sondern ein Dreifachstandard: einmal für die Diktaturen der Welt, einmal für die Demokratien und einmal nur für Israel.

Wie erklären Sie sich die Enthaltung Deutschlands? Es war nicht die erste dieser Art.

Ich kann es mir nicht erklären. Wirklich nicht.

Der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023, der sich in wenigen Tagen zum ersten Mal jährt, hat das Leben von Juden auf der ganzen Welt verändert. Wie ist die Lage in Deutschland heute?

Juden in Deutschland haben heute Angst, als Juden auf der Strasse oder in der U-Bahn erkannt zu werden. Jüdische Studenten legen Seminare lieber online ab. Wenn sie auf dem Campus sind, haben sie Angst vor den langen Korridoren und gehen zu zweit auf die Toilette. Alle jüdischen Einrichtungen, wie Schulen und Synagogen, müssen von der Polizei bewacht werden. Diese Abnormalität kann man nicht als normal ansehen.

Antisemitismus war schon vorher ein Problem in Deutschland. Und jüdische Einrichtungen stehen hierzulande schon lange unter Polizeischutz.

Ja. Aber es ist viel schlimmer geworden. Es gab immer schon den Antisemitismus von rechts. Der ist einfach gestrickt: «Wir sind gegen Juden, Schwarze und Schwule.» Der Antisemitismus von links ist geschickter, der muslimische Antisemitismus auch – beide tragen heute das Gewand der politischen Korrektheit.

Antisemitismus wird auch als ältester Hass der Welt bezeichnet. Tritt dieser Hass heute nur lauter und selbstbewusster auf? Oder ist mit dem 7. Oktober eine neue Form entstanden?

Ich glaube, wir erleben etwas Neues. Die Versuche, Israel und Juden zu dämonisieren, verbreiten sich über Social Media rasend schnell. Und es ist schwierig, dagegenzuhalten. Es gibt Medien, die es versuchen. Anständige Zeitungen wie die NZZ überprüfen, was sie berichten, und verlassen sich nicht auf eine einzelne Quelle. Aber Fake News sind wie Waldbrände. Sie können gar nicht schnell genug löschen. Und es brennt heute überall, im Kulturleben, an den Universitäten, in Teilen der Politik. Es ist eine sehr gefährliche Lage. Wir Juden sind der Kanarienvogel in der Kohlemine. Wenn Antisemitismus zunimmt, ist das ein Warnzeichen für alle. Wir sind zuerst dran. Dann folgen andere.

Ich habe kürzlich mit zwei jüdischen Studentinnen und einem Studenten ein Interview geführt. Zwei von ihnen denken darüber nach, Deutschland zu verlassen und nach Israel auszuwandern. Sie sind selbst viel im Land unterwegs. Hören Sie Ähnliches?

Ja. Ich kenne Beispiele. Ein Arzt musste seine Praxis gerade nach 25 Jahren dichtmachen, weil er als Jude so angegangen wurde. Ich höre oft, dass Menschen Wohnungen in Israel gekauft haben, aber den letzten Schritt noch nicht gehen. Das sind vor allem Juden mit deutschen Wurzeln. Russischstämmige Juden sind deutlich weniger bereit, zu gehen.

Warum?

Wenn man schon einmal ausgewandert ist, dann ist die Bereitschaft gering, es ein zweites Mal zu tun. Das ist eine schwere Sache: die Integration ins neue Land, der Schulbesuch der Kinder, die Sprache.

Sie haben selbst deutsche Wurzeln.

Preussische Wurzeln!

Warum betonen Sie das?

Weil meine Familie väterlicherseits sehr preussisch war. Mein Grossvater Berthold Proskauer hatte nicht viel mit seinem Judentum zu tun. Das war ein nationalistischer preussischer Offizier. Ich habe ein Foto von ihm mit Pickel . . . wie heisst das?

Pickelhaube?

Ja, Pickelhaube. Das schicke ich Ihnen. 1934 hat er in Tel Aviv geschrieben: «Ich bin ein Deutscher, und ich werde immer ein Deutscher bleiben.» Und: «Gott schütze mein deutsches Vaterland.» Bei meiner Grossmutter Elfriede war es ähnlich. Sie lebte in Haifa, aber sie war mit ihren Gedanken immer hier: Kurt Masur und das Gewandhaus in Leipzig, Goethe, Schiller . . . es war eine Hassliebe. Alles, was sie ausmachte, war deutsch. Aber Deutschland hat sie rausgeworfen.

Fühlen Sie sich deutsch?

Nein, ich fühle mich nicht deutsch. Ich fühle mich sehr israelisch. Mein Vater Uri hatte noch etwas Preussisches, der war immer sehr pünktlich. Aber meine Mutter ist in Israel zur Welt gekommen; die Eltern waren Bauern aus Odessa. Die bürgerlichen Proskauers waren darüber nicht glücklich. «Du kannst die nicht heiraten», haben sie zu meinem Vater gesagt. «Das ist Fussvolk.» Am Ende war es eine gute Mischung: das Preussische des Vaters und die Wärme der Mutter.

Im Berliner Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf wurden kürzlich Stolpersteine verlegt, die an die Flucht Ihrer Grosseltern 1933 aus Deutschland erinnern. Was bedeuten Ihnen diese Steine?

Als ich 2007 Botschafter in Grossbritannien wurde, bin ich in einer Kutsche mit weissen Pferden zur Königin gefahren, um ihr mein Beglaubigungsschreiben zu überreichen. Das war sehr emotional. Den Hut meiner Frau bezahlen wir heute noch. Aber als ich Frank-Walter Steinmeier 2022 mein Beglaubigungsschreiben in Anwesenheit meiner 92-jährigen Mutter übergeben habe, war das der Höhepunkt meiner Karriere. Ich habe die israelische Fahne angeschaut, und ich habe an meinen Vater gedacht, der nicht mehr mit uns ist. Meine Familie ist aus Deutschland rausgeflogen, bevor der Staat Israel gegründet wurde, und heute bin ich Vertreter des jüdischen Staates in Berlin. Was für eine Ehre.

Der Staat Israel tritt in seiner politischen Kommunikation seit dem 7. Oktober viel robuster auf als früher. Das gilt auch für Diplomaten. Sie selbst, Herr Prosor, greifen immer wieder Personen öffentlich an, die Ihrer Meinung nach Antisemitismus oder Hass auf Israel verbreiten oder befördern. Mal trifft es eine Hochschulpräsidentin, mal eine jüdische Publizistin, mal den Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Christoph Heusgen. Ziemlich undiplomatisch, oder?

Ich habe vor drei Jahren ein Buch geschrieben. Die Übersetzung vom Englischen ins Hebräische wird bald erscheinen. Der Titel lautet: «Undiplomatisch gesprochen». Was bedeutet das? Ich glaube sehr stark an Diplomatie. Aber Diplomatie darf nicht aus leeren Worten bestehen. Wenn wir zum Beispiel etwas in Iran ändern wollen, müssen wir die Mullahs überzeugen, dass ihr Handeln Kosten hat. Wenn wir keine militärische Option auf den Tisch legen, können wir nicht erwarten, dass sie ihr Verhalten ändern.

War Israels Public Diplomacy in der Vergangenheit zu zurückhaltend?

Ja, ganz klar. Wir haben grosse Fehler gemacht. Wir dachten, die Hamas bestehe aus normalen Menschen. Dabei sind es Barbaren. Wir dachten, die meinen es nicht wörtlich, wenn sie damit drohen, jeden Juden zu töten, auch wenn er sich hinter einem Baum versteckt. Säbelrasseln, haben wir gedacht. Wir hatten ein Bild von der Welt, wie wir sie sehen wollten, nicht davon, wie sie wirklich ist. Und wir haben dafür einen hohen Preis gezahlt. Europa und vor allem Deutschland muss aufpassen, dass es nicht in die gleiche Falle tappt.

Was meinen Sie?

Die deutsche Ostpolitik von Willy Brandt und später Helmut Schmidt, Helmut Kohl, Gerhard Schröder und Angela Merkel war grundsätzlich richtig. Aber es ist ein Fehler, heute im Umgang mit Wladimir Putin auf Dialog zu setzen. Eindämmung funktioniert gegenüber Putins Russland nicht.

Zwei deutsche Parteien, die im Verhältnis zu Russland auf Zurückhaltung und Dialog setzen und derzeit immer erfolgreicher werden, sind die AfD und das Bündnis Sahra Wagenknecht, kurz BSW. Beide kritisieren nicht nur deutsche Waffenlieferungen an die Ukraine, sondern auch an Israel. Was sagen Sie dazu?

Dass sich links und rechts in diesen Fragen so nahestehen, ist natürlich eine Warnung. Aber ich habe viel Vertrauen in die deutsche Demokratie.

Gibt es Kontakte zwischen der israelischen Botschaft und der AfD?

Nein. Wir reden nicht mit denen.

Gibt es Versuche seitens der Partei, mit Ihnen ins Gespräch zu kommen.

Nicht dass ich wüsste.

Und das BSW?

Noch nicht. Aber ich gehe davon aus, dass sich das bald ändern wird.

Wenn Frau Wagenknecht anruft, dann gehen Sie ans Telefon?

Ja. Ich gehe meistens ran, wenn jemand mit mir sprechen will.

(Die beiden ersten Fragen im Interview zum iranischen Raketenangriff am Dienstagabend wurden schriftlich nachgereicht, Anm. d. Red.)

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