Mittwoch, Februar 12

Unmittelbar nach Beginn der Waffenruhe im Gazastreifen hat Israel eine Grossoperation im nördlichen Westjordanland lanciert. Menschen vor Ort berichten von Massenverhaftungen, Vertreibungen und gesprengten Wohnblöcken. Was steckt hinter dem Einsatz?

«Die Drohne hat uns immer wieder auf Arabisch angewiesen, unsere Häuser zu verlassen», erzählt Mohammed Jabareen. «Als wir aus dem Flüchtlingslager hinauswollten, haben sie überall um uns geschossen. Das war der erste Tag der israelischen Invasion.» Der 56-jährige Jabareen stammt aus dem sogenannten Flüchtlingslager von Jenin. Das 1953 gegründete Lager im Zentrum der Stadt im nördlichen Westjordanland ist längst zu einem Quartier mit festen Häusern geworden – und zu einer Hochburg militanter Palästinenser.

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In Jenin rücken deshalb seit Jahren immer wieder israelische Soldaten an, zerstören Häuser, reissen mit Bulldozern die Strassen auf, töten Militante. Die Israeli vergelten damit jeweils Angriffe auf Checkpoints und Siedlungen, die von Terroristen der Hamas, des Palästinensischen Islamischen Jihad oder den Al-Aksa-Brigaden ausgeführt wurden. Die Leidtragenden sind die 24 000 Zivilisten, die in den ärmlichen, dicht gedrängten Häusern des Flüchtlingslagers leben. Viele von ihnen haben sich längst an den Kreislauf aus Tod, Leid und Hoffnungslosigkeit gewöhnt. Doch die israelische Operation «Eiserne Mauer», die am 21. Januar in Jenin begann, ist anders.

In vielerlei Hinsicht scheint «Eiserne Mauer» eine Fortsetzung von «Schwerter aus Eisen» zu sein – der Übername für Israels Krieg im Gazastreifen. Nur zwei Tage nachdem die Waffenruhe in der Küstenenklave begonnen hatte, rückten israelische Truppen in Jenin vor. Teilweise sind es dieselben Soldaten, die kurz zuvor noch in Gaza stationiert waren. Und sie bringen die zerstörerischen Methoden aus dem Gaza-Krieg ins Westjordanland.

Eine neue Art von Militäroperation

Mohammed Jabareen ist inzwischen gemeinsam mit einigen Dutzend weiteren Vertriebenen im Haus seines Sohnes in einem Dorf nahe Jenin untergekommen. Dem Mann mit dem grauen Vollbart fehlen einige Zähne, er sitzt draussen an einem kaputten Plastiktisch und raucht. Nur einen Tag vor dem Treffen hatte in Jenin die Erde gebebt, als die israelische Armee rund zwanzig Häuser im Flüchtlingslager in die Luft sprengte.

Israels Armee hat nahezu alle Bewohner des Flüchtlingslagers zur Evakuation aufgefordert. Junge Männer wurden verhört und festgehalten. Bewohner aus dem Lager erzählen von Scharfschützen, die auf jeden schössen, der sich bewege, von Soldaten, die Häuser anzündeten. Einer von Jabareens Söhnen ist bis heute in Haft. «Ich habe gesehen, wie einige junge Männer in weisse Overalls gekleidet und abgeführt wurden», erzählt er. «Wir alle mussten unsere Augen scannen lassen.»

Iris-Scans, Evakuierungen, gesprengte und angezündete Wohnhäuser: Das alles sind Methoden, die die israelischen Streitkräfte (IDF) zuvor nie im Westjordanland angewendet haben. Im Gazastreifen waren sie hingegen Routine. Wann die Bewohner in ihre Häuser zurückkehren können, ist unklar. Bei einem Besuch vor Ort verkündete der Verteidigungsminister Israel Katz, die IDF würden auch nach Ende der Operation nicht aus Jenin abrücken – auch das wäre ein Novum.

Jabareens Bruder Mahmud setzt sich ebenfalls an den Tisch. «Wir haben schon vieles erlitten», sagt der 53-Jährige. «Aber jetzt ist die Zerstörung weitaus grösser.» Mohammed nickt und fügt hinzu: «Die Israeli wenden die gleichen Methoden wie in Gaza an.»

Auf Gewalt folgt Gegengewalt

Israels Armee teilt auf Anfrage mit, dass sie seit Beginn der Operation Sprengstofflabors, Waffen und Beobachtungsposten in Jenin entdeckt habe. In den bislang 23 zerstörten Gebäuden soll sich diese «terroristische Infrastruktur» befunden haben. Zu den angewendeten Methoden wollen sich die IDF im Detail nicht äussern. Bei seinem Truppenbesuch hatte Verteidigungsminister Katz allerdings verkündet, die Armee wende die «Lehren aus Gaza» an.

Auch israelische Medien berichten unter Berufung auf anonyme Militärquellen, dass im Westjordanland Methoden aus Gaza angewendet würden. Demnach seien die Gebäude auch gesprengt worden, damit in Zukunft gepanzerte Fahrzeuge besser durch die engen Gassen fahren könnten. Bewohner sollen nur nach strengen Untersuchungen zurückkehren dürfen.

Rechtsextreme Minister in Israels Regierung fordern schon lange ein härteres Vorgehen der Armee im besetzten Westjordanland. Im Januar sagte der Finanzminister Bezalel Smotrich, die palästinensischen Städte Nablus und Jenin sollten aussehen wie Jabalia – jene fast komplett zerstörte Stadt im nördlichen Gazastreifen. Die Zerstörung in Jenin ist trotz heftigen Angriffen immer noch weitaus geringer als im nördlichen Gazastreifen, die Zahl der Todesopfer reicht nicht annähernd an jene in Jabalia heran. Beobachter gehen davon aus, dass der Einsatz nicht zuletzt deshalb lanciert wurde, um Smotrich zum Verbleib in der Regierung zu bewegen. Der Finanzminister trägt die Waffenruhe im Gazastreifen nur zähneknirschend mit und droht mit seinem Rücktritt, sollte sie Bestand haben.

Mindestens siebzig Menschen wurden laut dem palästinensischen Gesundheitsministerium im Westjordanland seit Beginn des Jahres durch israelische Soldaten getötet, 38 von ihnen in Jenin. Die IDF sprechen von mindestens 55 getöteten «Terroristen» seit Beginn der Operation «Eiserne Mauer», die sich längst nicht mehr auf Jenin beschränkt. Israelische Soldaten operieren inzwischen auch in Tulkarem und Tubas im nördlichen Westjordanland. Auf die Gewalt folgt Gegengewalt: Vergangene Woche erschoss ein Palästinenser zwei Soldaten an einem Checkpoint, bevor er getötet wurde.

Wie viele Mitglieder militanter Organisationen bei dem Einsatz wirklich getötet wurden, lässt sich nicht überprüfen. Dass es sich um einige Dutzend handelt, ist nicht unwahrscheinlich. Doch immer wieder trifft es auch Unbeteiligte. So wie die zweijährige Layla al-Khatib.

«Sie haben Layla getötet und sind einfach gegangen»

Es war ungefähr acht Uhr an einem Samstagabend Ende Januar. Bassam Assous ass mit seiner Familie zu Abend, als die Schüsse fielen. Es habe Gebäck mit Zatar-Füllung gegeben, einer arabischen Gewürzmischung. So erinnert sich der Grossvater von Layla al-Khatib über eine Woche später in seinem Haus in Muthallat al-Shuhada, einem kleinen Dorf südlich von Jenin. Als die Israeli zu schiessen begannen, gingen seine Töchter mit der kleinen Layla ins Schlafzimmer. Assous suchte mit seiner Frau Schutz in einem anderen Raum. «Kurz darauf hörte ich Schreie – und ich wusste sofort, dass es keine Angstschreie waren», sagt der 58-Jährige. Seine zweijährige Enkelin hatte einen Kopfschuss erlitten. «Als ich ins Zimmer trat, war überall Blut.»

Der Lehrer für Physik und Chemie nahm das blutende Kleinkind in die Arme und ging nach unten auf die Strasse. «In dem Moment, in dem ich die Tür öffnete, waren auf der Strasse und auf den Dächern überall israelische Soldaten», erzählt er. «Ich fragte einen Soldaten, warum sie meine Enkelin getötet haben. Er sagte nur: ‹Sorry›.»

Es dauerte 15 Minuten, bis eine Ambulanz kam – zu spät für die kleine Layla. Die Israeli hätten daraufhin eine Drohne in das Haus geschickt, alles durchsucht, den Laptop seiner Tochter zerstört und ihn und seine Familie mehrere Stunden lang festgehalten, sagt Assous. Dann seien sie abgezogen. «Sie haben Layla getötet und sind einfach gegangen – ich habe nie wieder etwas von ihnen gehört.»

In der ersten Etage sind die Einschusslöcher in den Wänden und Fensterscheiben zu sehen. Die israelische Armee teilt mit, sie habe Informationen gehabt, wonach sich in dem Haus Terroristen aufgehalten haben sollen. «Die IDF bedauern jeden Schaden, der unbeteiligten Zivilisten zugefügt wird», heisst es auf Anfrage. Assous glaubt jedoch nicht an einen bedauerlichen Unfall. «Es ist doch bekannt, über welche geheimdienstlichen und technologischen Fähigkeiten die Israeli verfügen. Sieht das etwa aus wie ein Versehen?», fragt er und zeigt auf die durchlöcherten Wände und Sofakissen. «Was uns passiert ist, hätte jedem Palästinenser widerfahren können.»

Vor zwei Jahren war Laylas Vater bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Nun habe ihm ihre 26-jährige Mutter Taima gesagt, sie wolle ebenfalls sterben, sagt Assous. «Layla hat immer auf meinen Schultern gesessen und meinen Kopf geküsst», erinnert er sich. Dann bricht seine Stimme, und der Mann kann die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Israelische Drohnen am Himmel

Im Stadtzentrum von Jenin sind nur wenige Menschen auf den Strassen. Seit Beginn der israelischen Militäroperation seien alle Cafés und Restaurants geschlossen, erzählen Bewohner. Ohnehin liegt die Wirtschaft in Jenin wegen der nie enden wollenden Gewalt am Boden: Die lokale Handelskammer geht von einer Arbeitslosenquote von 55 bis 65 Prozent in der Stadt aus.

Wenige hundert Meter vom sogenannten Flüchtlingslager entfernt kaufen einige Männer Obst und Gemüse auf dem Markt. Aus den Megafonen der Verkäufer plärren die Preise der Waren in Endlosschleife. Einige Stände haben allerdings zugemacht. «Zu wenig Kundschaft», sagt Youssef, ein älterer Apfelverkäufer mit schwarzer Mütze und grauem Vollbart. «Seit der israelischen Invasion befinden wir uns im Krieg.» Wie um seine Worte zu unterstreichen, schwebt kurz darauf eine israelische Drohne im Tiefflug über Jenin. Laut Israels Armee dürfte die Militäroperation noch mehrere Wochen dauern.

Mitarbeit: Ismael Abla

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