Samstag, Oktober 5

Der Hamas-Chef Yahya Sinwar nutzt die Schwäche des jüdischen Staates gnadenlos aus: Mit den Geiseln hat er ein Unterpfand in der Hand, das die israelische Gesellschaft spaltet.

Israel kann nicht wie die Hamas, der Hizbullah oder Iran kämpfen, und alle seine Feinde wissen das. Ihre Taktik ist entsprechend: Die Juden lieben ihre Kinder mehr, als sie ihre Feinde hassen. Man nehme also ihre Kinder als Geiseln, und sie sind wehrlos.

Im Jahr 2011 wurde ein von der Hamas gefangen gehaltener israelischer Soldat nach fünfjährigen Verhandlungen gegen tausend palästinensische Häftlinge, unter ihnen schlimmste Terroristen, ausgetauscht. Einer von ihnen war der derzeitige Führer der Hamas, Yahya Sinwar. In der Gefangenschaft studierte er die Juden und lernte sie besser kennen, als sie sich selbst kannten. Die Israeli liessen ihn frei, einen Verbrecher, der für zahllose Morde verantwortlich war, weil der eine Soldat für das Selbstverständnis der Juden zentral war. Auf einen Schlag kamen tausend potenzielle Terroristen frei.

Für Israels Feinde gibt es keine Regeln. Es geht einzig um die Vernichtung Israels, ohne Rücksicht auf die Methoden, die Toten, den Schmerz. Der Islam ist von der Idee eines permanenten Krieges gegen die Ungläubigen durchdrungen, und die Juden sind ein Hindernis in diesem Krieg, das mit Ausdauer und ausreichendem Blutvergiessen beseitigt wird, wie jedes Hindernis in der Geschichte des Islams ausgelöscht worden ist. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Generationen von Gläubigen, die geopfert werden müssen, bis die Juden unterworfen und vertrieben werden.

Sinwar hat die Waffe gefunden, mit der er die Juden besiegen und die Welt manipulieren kann: den Tod seiner eigenen Landsleute. Er fordert die Juden auf, sein Volk zu töten, und die Israeli können sich dem in ihrem Kampf gegen die Hamas nicht entziehen, da die Terrorbewegung sich hinter dem Rücken von Gazas Bevölkerung versteckt.

Wenn es Tote unter Zivilisten gibt, schiebt die Welt nicht Sinwar und seiner Mörderclique die Schuld zu, sondern Israel. Er weiss, wie die Welt auf Todesopfer reagiert, die von Juden verursacht werden. Und die Juden nehmen die Vorwürfe ernst. Sie entwickeln Kampfmethoden, um die Gefahr ziviler Opfer im Gazastreifen, die Terroristen beschützen, zu minimieren, aber im Chaos des Kriegsgeschehens kommt es dennoch zu unzähligen Todesfällen unter Zivilisten.

Von israelischen Ärzten operiert

Sinwar hingegen kümmert sich nicht darum, israelische Zivilisten so weit wie möglich zu verschonen. Seine Männer töten ruchlos und wissen sich im Einklang mit ihrem Volk, ihrer Kultur und ihren Traditionen. Denn die Juden sind nicht nur ihre Feinde, sondern auch die Feinde ihres Propheten, und dieser hat die Ermordung der jüdischen Stämme persönlich angeordnet, wie es in islamischen Berichten heisst.

Folglich gibt es in den palästinensischen Gebieten keine breite gesellschaftliche Debatte darüber, ob eine zivilisierte Gesellschaft Morde, Vergewaltigungen, Verstümmelungen und Enthauptungen zulassen kann. Im Internet wimmelt es von religiösen Führern, die festlegen, unter welchen rechtlichen Umständen eine Vergewaltigung zulässig sei. In der islamischen Tradition ist sie ein zulässiges Mittel, um den Ungläubigen Angst einzujagen. Die Terroristen, die enthaupten und vergewaltigen, werden von ihren Familien geehrt. Die posttraumatische Belastungsstörung kennen islamische Terroristen nicht.

Als Yahya Sinwar in einem israelischen Gefängnis lebte, wurde bei ihm ein Gehirntumor diagnostiziert. Als Gefangener hatte er Rechte, und er wurde operiert. Und es dämmerte ihm, wenn ein Gefangener das Recht auf eine kostspielige Operation hat, die nur dank den von den Israeli gezahlten Steuern möglich war, dank ihren wissenschaftlichen Kenntnissen, dank ihrer Verpflichtung, jedes Leben zu ehren und zu schützen, selbst das Leben von einem judenhassenden Mörder wie ihm, dann waren die Juden verloren.

Gleichzeitig war die Operation, mit der die Juden sein Leben retteten, die tiefste Demütigung, die ihm zugefügt werden konnte. Aber er war auch euphorisch. Er hatte die Schwäche der Juden erkannt, die leichtgläubig annahmen, dass die Rettung eines einzelnen Lebens die Rettung der gesamten Menschheit sei.

Sinwar wusste, dass eine solche Idee im Nahen Osten ein Witz war. Die Juden konnten sich nicht vorstellen, dass er seine Retter in jeder Hinsicht verachtete: persönlich, kulturell, religiös. Und wenn sie es sich zwar vorstellen konnten, so waren die Juden doch nicht in der Lage, ihn sterben zu lassen. Sie hatten lächerliche Regeln, die in Tausenden von Jahren der Verfolgung, der Flucht und des Neubeginns entstanden waren und die ihnen die Pflicht auferlegten, auch diejenigen zu heilen, von denen sie verachtet wurden.

Ein Israeli für tausend Terroristen

Der eine Soldat, der 2011 gegen tausend palästinensische Gefangene ausgetauscht wurde, war 2006 bei einem Angriff aus dem sogenannt freien Gazastreifen entführt worden. Im Jahr 2005 hatte sich Israel vollständig daraus zurückgezogen. Es gab dort keine Juden mehr.

Doch am 25. Juni 2006 tauchte eine Gruppe von Terroristen aus einem 300 Meter langen Tunnel auf, den sie am Grenzübergang Kerem Shalom gegraben hatten. Ihr Überraschungsangriff führte zum Tod mehrerer israelischer Soldaten und zur Gefangennahme des Unteroffiziers Gilad Shalit. Kein berühmter Mann. Kein bemerkenswerter Wissenschafter. Nur ein junger Jude. Der Preis für seine Freilassung waren 1027 Gefangene, die für den Tod von 569 Israeli verantwortlich waren.

Für Leute wie Sinwar war dies der letzte Beweis für die Schwäche der Juden. Kein Führer eines islamischen Landes wäre bereit gewesen, tausend Verbrecher gegen einen beliebigen Soldaten einzutauschen. Aber die Juden waren weltmüde genug, zu glauben, dass Shalits Leben wichtiger war als die Inhaftierung der Mörder von 569 Juden.

Sinwar verstand es, die Juden zu erschöpfen, sie zu erpressen, sie gegeneinander aufzubringen. Einhundert entführte Juden würden das jüdische Land zerreissen.

Eine Hirnoperation kann zu tiefgreifenden charakterlichen Veränderungen führen, aber Sinwar war bereits grenzenlos grausam, als er 1989 für den Mord an zwei israelischen Soldaten und die Ermordung von vier Palästinensern, die er der Kollaboration mit Israel beschuldigte, verurteilt wurde. Der Gefängnisarzt, der ihn kannte, sagte gegenüber der «Times of Israel»: «Vor seiner Verhaftung lebte er mit Angst und Schrecken. Er liess Gruben ausheben, warf Menschen hinein, die er verdächtigte, gegen ihn zu sein, und schüttete Zement auf sie, während sie noch lebten. Im Gefängnis schickte er Leute los, um andere zu foltern, die er nicht mochte. Aber er selbst hat sich die Hände nicht schmutzig gemacht.»

Solange Sinwar seine Geiseln hat, ist er unangreifbar. Familienangehörige der Geiseln fordern von der israelischen Regierung, dass für ihre Freilassung jeder Deal akzeptabel ist, sogar der vollständige Rückzug aus dem Gazastreifen und die Aufgabe des Grenzstreifens, in dem sich die Tunnel befinden, durch die die Hamas Bauteile für Waffen und Raketen sowie Baumaterial für die unterirdische Kriegsstadt schmuggelte.

Aber Sinwar wird die Geiseln niemals aufgeben. Die Zeit ist auf seiner Seite. Es spielt keine Rolle, ob die Geiseln noch am Leben sind oder bereits getötet wurden. Jede Geisel in einem unbekannten Tunnel bedeutet Folter für den jüdischen Staat, der seine Verpflichtung, jeden Juden zu retten, nicht erfüllen kann. Umgekehrt würde sich kein islamischer Führer einer solchen Erpressung jemals beugen.

Für Sinwar heiligt der Zweck jedes Mittel. Er hält unzählige seiner Landsleute im Gazastreifen in der Schusslinie. Für ihren Tod macht er mithilfe nützlicher Idioten in den westlichen Medien und Regierungen die Juden verantwortlich. Das ist teuflisch: Sinwar setzt auf das Gewissen der Israeli, während er, wenn er die Chance bekommt, die Juden skrupellos massakrieren wird.

Das Kriegsrecht bevorteilt Terroristen

Dieser Krieg sei asymmetrisch, sagen Israel-Kritiker, womit sie meinen, dass Israels militärische Stärke weitaus grösser sei als die der Hamas. Dies ist eine Verzerrung der Realität. Die Skrupellosigkeit der Hamas steht in krassem Gegensatz zu Israels Gewissen, das an innere und äussere kulturelle Regeln und an die Gesetze der Rechtsstaatlichkeit gebunden ist. Die Armee der Hamas zählt zwei Millionen Menschen, allesamt potenzielle Märtyrer, die von der Hamas im globalen Medienkrieg gegen Israel geopfert werden. Die Fähigkeit der Hamas, eigene Zivilisten der israelischen Armee entgegenzusetzen, ist die wahre durchschlagende Kraft in der Asymmetrie, nicht die Feuerkraft der israelischen Armee.

Die israelische Führung steht vor einem unlösbaren Dilemma: Wenn sie mit Sinwar ein Abkommen schliesst und sich im Gegenzug für die Freilassung der Geiseln vollständig aus dem Gazastreifen zurückzieht, wird er die Gelegenheit nutzen, um seine Armee aufzubauen. Dann wird er in fünf oder zehn Jahren erneut angreifen, gedeckt durch iranische Atomwaffen, denn sein Ziel bleibt unumstösslich: die Vernichtung des jüdischen Staates.

Wenn Israels Regierung keine Einigung erzielt, verurteilt sie die noch lebenden Geiseln zum Tod oder zu lebenslangem Leiden in einem Käfig in der Wüste Sinai oder einem Kerker in Iran. Israel wurde gegründet, um den Juden die Angst davor zu nehmen, dass sich niemand auf der Welt um sie kümmert. Kein israelischer Politiker kann die Geiseln ihrem Schicksal überlassen.

Sinwar, der geniale Teufel, kennt die Juden und jene, die er für die ungläubigen Hunde im Westen hält. Er weiss, dass der moderne westliche Rechtsstaat nicht in der Lage ist, Kriege in der Wüste bis zum bitteren Ende durchzuhalten: Das mächtigste Land der Erde hat sich aus dem Irak und aus Afghanistan zurückgezogen. Wer den muslimischen Kämpfern in der Wüste gegenübersteht, wird untergehen, wenn er das Kriegsrecht einhalten will.

Vor einigen Wochen sagte der palästinensische Islamwissenschafter Mohammed Qaddura gegenüber einem iranischen Fernsehsender: «Wie ich bereits in der Vergangenheit gesagt habe, werden wir nach der Befreiung Palästinas nicht akzeptieren, dass auch nur ein einziges Grab eines Juden in Palästina verbleibt, so dass es keine Spuren oder Erinnerungen an sie gibt. Alle hebräischen Wörter werden gelöscht und durch arabische Wörter und Wörter in den Sprachen der Länder, die auf der Seite der Palästinenser stehen, ersetzt werden.»

Der Hass und die Lust an der Zerstörung sind Symptome der tiefen Psychose, unter der dieser Islamgelehrte leidet. Im gesamten Nahen Osten laufen Millionen Menschen mit der gleichen Psychose herum. Kein Abkommen kann sie davon überzeugen, dass es besser ist, friedlich mit den Juden zu leben. In ihrer Welt gibt es keinen Zweifel an der Richtung der Geschichte. Sie führen einen ewigen Krieg unter dem Banner des Propheten, bis die Menschheit unterworfen ist.

Es ist traurig, dramatisch, verzweifelt: Muss der jüdische Staat, um zu überleben, zu einem Staat des Nahen Ostens werden, der so rücksichtslos agiert wie die Führer von Syrien oder Saudiarabien? Ist dies der Preis, den die Juden für die Bewahrung ihrer Autonomie und ihrer Traditionen im Nahen Osten zahlen müssen? Dies ist der Kern der Krise in der israelischen Gesellschaft: Ist es möglich, das Böse zu bekämpfen, ohne sich selbst der Mittel des Bösen zu bedienen? Hier haben die Geschichten der Bibel ihren Ursprung. Und sie sind immer noch lebendig.

Triumphale Tötung

Wir, die aufgeklärten Geister im Westen, reduzieren die Ursachen für die von der Hamas begangenen Bestialitäten auf die Folgen sozioökonomischer Entbehrungen, auf die Nakba von 1948 oder auf die Wut über das Vorgehen der Siedler im Westjordanland. Aber all das greift zu kurz, wenn man das Video der ermordeten Geisel Eden Yerushalmi sieht. Die 24-Jährige war am 7. Oktober vom Nova-Musikfestival entführt worden, wo sie an der Bar gearbeitet hatte. Sie war wunderschön.

In dem Video ist sie es immer noch, aber abgemagert, mit einem Blick voller Erschöpfung und Traurigkeit. Die israelischen Streitkräfte waren auf der Spur von Eden Yerushalmi und fünf weiteren Geiseln. Doch bevor sie befreit werden konnten, wurden sie in einem unterirdischen Tunnel getötet. Als israelische Soldaten sie fanden, stellte die Hamas ein Video ins Netz, in dem Eden einige Minuten lang zu ihrer Familie spricht. Wir tun das, weil ihr nichts weiter seid als die Nachkommen von Schweinen, lautet die implizite Botschaft der Hamas, wir schlachten euch ab und geniessen den Schmerz, den wir verursachen.

Ich war überwältigt, fassungslos, als ich sie sprechen sah und mir bewusst wurde, dass sie kürzlich wie ein Hund geschlachtet worden war. Ich bin nicht religiös. Aber die rituelle, triumphale Feier von Tod und Hass durch die Hamas kann nur mit einem Begriff aus der Religion benannt werden. Das absolute Böse.

Leon de Winter ist ein niederländischer Schriftsteller. – Aus dem Niederländischen von rbl.

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