Montag, September 16

Ein Freiwilligeneinsatz im Parc Ela zeigt, wie tückisch nachhaltige Landbewirtschaftung in hochalpinen Regionen ist.

Anfang September letzten Jahres, die Alp ist entladen. Die Kühe sind zwei Wochen früher als geplant ins Tal gegangen. Hitze, Wassermangel und Kälte haben den Wiesen zugesetzt. Die Tiere fanden kein Futter mehr. Drei Monate haben 42 Kühe und 15 Schweine auf der Alp Ozur gesömmert. Nun wird das Weideland gesäubert, bis der erste Schnee liegen bleibt. Diese Arbeit verrichten Jahr für Jahr die Bauern, die der Alpgenossenschaft Ozur angehören. Die Alp: ein Nordhang hoch über dem Albulatal, auf 2000 m ü. M., unterhalb der Motta Palousa eingebettet, ein wilder Flecken im Parc Ela, dem grössten und höchstgelegenen regionalen Naturpark in der Schweiz.

Der Schreibende hat sich anerboten, die Bauern zwei Tage lang im Kampf gegen die Vergandung der Weiden zu unterstützen. Mit ihm haben sich fünfzehn Menschen angemeldet, fünf sind kurzfristig ausgestiegen. Angereist sind ein pensionierter Treuhänder aus dem Emmental, ein junger Mann aus Portugal, der in der Schweiz «etwas mit Computer macht» und die Berge kennenlernen will. Eine Primarlehrerin und ein Umweltingenieur. Eveline, eine Krankenschwester, die 32 Jahre in San Francisco lebte, oder Lino, ein Suchender, der eine Ausbildung zum Hochbauzeichner unterbrochen hat, um in der Natur zu sein. Eine Idee haben sie gemein: die Freizeit sinnvoll und möglichst nachhaltig nutzen.

Der Natureinsatz ist Teil eines umfangreichen Programms, das der Parc Ela anbietet. Im Angebot stehen auch das Errichten von Trockenmauern, Heckenpflege und zahlreiche Projekte, die in der nachhaltigen Bewirtschaftung alpiner Kulturlandschaften unterweisen. Den Einsatz auf Ozur, den wir leisten, organisiert der Naturpark zum ersten Mal. Wir arbeiten auf der Alp und übernachten in der Hütte. «Wenn es sich bewährt, werden wir solche zweitägigen Volunteering-Einsätze öfters anbieten», sagt Flurin Caflisch, Projektleiter Arbeitseinsätze und Trockenmauerbau. Die Angebote fürs Volunteering würden grundsätzlich gut genutzt, sagt er. Im letzten Jahr zählte er «1400 Personeneinsatztage».

Fichten dringen ins Weideland ein

Die Bauern, die uns heute bei der Arbeit unterweisen, warten schon am Brunnen vor der Hütte und stellen sich der Reihe nach vor: Roland, Mathias und Erwin. Roland, Präsident der Alpgenossenschaft Ozur, begrüsst mit ernsten Worten: «Die Alpwirtschaft ist wichtig. Wir möchten diese Alp nicht aufgeben.» Für die beiden Tage bedeutet dies: «Heute müssen wir Vollgas geben, denn morgen wird das Wetter schlecht.» Mehr Zeit wird nicht vertan. Damit wir ahnen, was uns erwartet, brechen Mathias und Erwin unverzüglich auf. Man strengt sich vergeblich an, das Tempo der jungen Landwirte mitzugehen. Nach guten zwanzig Minuten erreichen wir den bedrohlich steilen Hang, den wir heute säubern. «Die Fichten sind in das Weideland eingedrungen. Wird die Kulturlandschaft nicht gepflegt, rückt der Wald unerbittlich vor», erklären die Männer.

Dann beginnen die Motorsägen zu dröhnen, die ersten Fichten fallen, die Bauern verkleinern grössere Stämme in fast handgerechte Portionen. Wir schneiden kleine Triebe mit der massiven Baumschere weg, schleppen das Gehölz wahrhaftig über Stock und Stein und schichten es zu Haufen auf. Sie werden zum Lebensraum für kleine Tiere. Wir stossen am Hang auf etliche Löcher von Murmeltieren und müssen aufpassen, dass wir nicht hineinstolpern und uns die Knochen brechen.

Kein Platz für Romantisierungen der hochalpinen Landschaft

Wer diesen Einsatz als Spass begreift, ist fehl am Platz. Er ist weder eine bergsteigerische Vergnügungstour noch eine Mission, um Körper und Geist ins Lot zu bringen. Die eher urbane Neigung, die Alpenwelt zu verklären, ist so deplatziert wie die Idealisierung der hochalpinen Landwirtschaft. Gefragt ist ein beharrliches Engagement bei gleichzeitigem Einsatz vieler Muskelgruppen. Hinauflaufen, ein Tännchen herunterschleppen, auf den Haufen werfen, wieder hinauflaufen. Während wir nach dünner Bergluft schnappen, stechen widerspenstige Fichtennadeln in die Arme.

In der Schweiz gibt es 20 Naturpärke, rund 14 Prozent der gesamten Schweizer Fläche, hierarchisiert in drei Bereiche. Der Engadiner Nationalpark steht einsam da, dort wird die Natur konsequent geschützt. In den regionalen Naturpärken und den Naturerlebnispärken gelten weniger strenge Schutzauflagen. Der Verein Parc Ela wurde im Mai 2005 gegründet. Mitglieder des Vereins sind die sechs Parkgemeinden sowie Privatpersonen und Firmen. Eine Geschäftsstelle koordiniert den Betrieb. Der Park umfasst 659 Quadratkilometer, ein Drittel ist unberührt.

Als wir am späten Nachmittag von der Alp hinuntersteigen, glaubt Erwin im aufgeweichten Schlamm den frischen Pfotenabdruck eines erwachsenen Wolfes zu erkennen. Daraus entwickelt sich ein angeregtes Gespräch über die Rückkehr des Raubtiers in die Schweiz, in dem Gefühle und Argumente kaum zu unterscheiden sind. Um fünf Uhr sitzen wir vor der Hütte und schauen talauswärts zum Brienzer Rutsch und zum Piz Linard und hegen unsere strapazierten Muskeln.

Die Lust ist klein, auf die nahe Motta Palousa hochzulaufen, auch wenn der Gipfel eine spektakuläre Rundsicht bieten soll. Später wird uns klar, wofür wir eigentlich geschuftet haben: Sarah hat einen Apéro vorbereitet, der alle Sinne reagieren lässt. Sarah ist Projektleiterin Bildung und Vermittlung im Parc Ela und kurzfristig eingesprungen, um uns zu verköstigen. Der Humus aus Bergackerbohnen ist zart und cremig, mit einem feinen Hauch orientalischer Würzung. Der Alp-Ozur-Käse schmeckt schön rezent, man scheint eine Note Alpenkräuter wahrzunehmen. Zusammen mit dem Holundersirup und dem Trockenfleisch, das Roland auf seinem Hof im Heissluftofen produziert hat, entfalten sich zusätzliche Geschmacksnuancen.

Naturpärke im Spannungsfeld zwischen Erhalt und Nutzung

Naturpärke sind merkwürdige Betriebe und immer im Dilemma. Sie locken mit ihrer Natürlichkeit und leiden an den Übergriffen. Sie verführen den Menschen zum Profit, verlangen von ihm aber Mässigung. Sie wünschen sich Entlastung und werden von der Tourismusindustrie und dem Menschen, der sich in der Natur bewegt, doch stets unter Druck gesetzt. Denn eigentlich wurden regionale Naturpärke als «Modellregionen» gegründet, um wertvolle Kultur- und Naturlandschaften zu erhalten und eine nachhaltige Wirtschaft zu fördern. Das haben die Betreiber in einer Charta schriftlich festgelegt. Die Betreiber sind die Gemeinden der entsprechenden Region. Sie stützen sich auf das Natur- und Heimatschutzgesetz (NHG) und werden von Bund und Kantonen finanziell unterstützt. Das Naturpark-Label muss alle zehn Jahre vom Bund erneuert werden.

Nur sind die Vorgaben für die Eigner nicht verbindlich. Für die Natur ist das ein Problem, weil die Charta zu häufig übergangen wird. Deshalb hadern die Schweizer Naturschutzverbände mit den Gemeinden. «Die Gemeinden und die Regionen müssten das Anliegen der Nachhaltigkeit stärker verinnerlichen. Ich wünsche mir auch, dass der Bund aktiver beurteilt, was ein Naturpark getan hat und was er für die nächsten Jahre plant. Wenn das Dossier den Anforderungen nicht mehr entspricht, sollte der Bund dem Park das Label entziehen», sagt Urs Tester, Mitglied der Geschäftsleitung von Pro Natura.

«Wir stellen fest, dass einiges getan wird, um die Menschen mittel- und langfristig für die Umwelt zu sensibilisieren. Wenn es aber kurzfristig um Entscheidungen geht, dann sind Bauprojekte für den Tourismus sehr dominant», sagt Maren Kern, Geschäftsführerin bei Mountain Wilderness Schweiz. Gemäss Tester legen viele Naturpärke den Fokus auf die touristische Vermarktung ihrer Landschaften und schmücken lokale Produkte mit dem Naturpark-Label. Eine gezielt auf den Erhalt von Natur- und Landschaftswerten ausgerichtete Entwicklung fehle hingegen in vielen Parkgemeinden. Das Naturpark-Label – alles nur geschicktes Marketing, um den Tourismus anzukurbeln?

Das kann Dominique Weissen, Geschäftsleiterin Netzwerk Schweizer Pärke, nicht so stehen lassen. «Das langfristige, nachhaltige Denken und Handeln ist gerade das, was die Pärke ausmacht. Wohl nirgends in der Schweiz sind die Tourismusprojekte so nachhaltig wie in den Pärken, da mit dem Park jeweils ein Player in der Region ist, der sich für alle Dimensionen der Nachhaltigkeit starkmacht, namentlich auch für die unter Druck stehende Natur.»

Der Parc Ela sei ambitionierter als andere, diese Vorgaben zu erfüllen, sagen die angefragten Naturschutzverbände, ohne negative Beispiele zu benennen. Ein neues und beispielhaftes Projekt für nachhaltigen Tourismus ist der Parc Ela Trek. In siebzehn Tagesetappen führt ein Weitwanderweg über hochalpine Pässe, ohne einmal ins Tal zu steuern. Der Trek verläuft grösstenteils auf über 2000 m ü. Meer: von Tiefencastel nach Stierva, Radons, Juf, auf den Septimer, den Julierpass, auf die Alp Flix, zur Ela-Hütte, nach Preda, zur Es-cha- und zur Kesch-Hütte, ins Sertig, auf die Wiesner Alp, nach Lenzerheide. Der Trek nutzt bestehende Wanderwege.

Wirtschaftliche Interessen im Konflikt mit dem Naturschutz

Gibt es aber zwischen Naturschutz und Wirtschaft unterschiedliche Interessen, ist auch hier der ökonomische Standpunkt meist dringlicher. Bei der Solisbrücke planen private Investoren zwei Hängebrücken über die unverbaute, wilde Schinschlucht, mit künstlicher Felsenkaverne und Plattform. Das Projekt «Aventura Alvra» ist von der Regierung bewilligt worden. Die Stiftung Landschaftsschutz Schweiz (SL) und Mountain Wilderness Schweiz beschwerten sich über diese «touristische Möblierung» und «Vergnügungsanlage». Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hat den Umweltverbänden in allen Punkten recht gegeben. Die Gemeinde Albula akzeptiert das nicht. Seit Mai 2022 liegt ihr Rekurs gegen das Gerichtsurteil beim Bundesgericht.

Auf der Alp Flix, ohnehin vom Tagestourismus schwer geplagt, subventionieren Bund und Kanton eine Gesamtmelioration. Das heisst, der Boden wird umfassend «renoviert», etwa entwässert oder mit Weganlagen versehen, damit er mehr Ertrag abwerfen kann. Das Gesetz schreibt aber vor, dass bei jeder Gesamtmelioration Natur und Landschaft im Perimeter ökologisch aufgewertet werden müssen. Das Problem sei, sagt Urs Tester von Pro Natura, dass dieses Gesetz oft nicht vollzogen werde. Denn die an einer Melioration beteiligten Landwirte würden erwarten, dass die Bewirtschaftung «besser» werde. Erfahrungsgemäss bedeute dies aus Sicht der Umwelt häufig eine Verschlechterung für die Naturvielfalt und das Landschaftsbild. «Auf der Alp Flix ist ein wunderschönes Flachmoor mit extensiven Weiden, die auch in Zukunft vielfältig bleiben sollen», sagt Tester.

Nach dem Apéro checken wir in der Steinhütte ein, bei der man ahnt, dass sie sich immer schwerer tut, sich gegen den Zerfall und die Witterung zu wehren. Der Wohnraum wird ausgefüllt vom Holzkochherd und vom Arventisch in der Ecke, eingefasst von Eckbänken und fünf Stühlen. An der Decke hängt ein Fliegenfänger. Die Fliegen, die daran kleben, sind schon lange tot. Im Brunnen vor dem Haus sprudelt Wasser, das gut zum Trinken ist und mit dem man den verschwitzten Körper waschen kann.

Ich besetze eine Matratze im oberen Stock und breite meinen Daunenschlafsack aus. Danach schäle ich Bergkartoffeln, Blaue Anneliese und Rote Emmalie, und zerschneide sie in grobe Stücke, so wie es Sarah aufgetragen hat. Es gibt Pizzoccheri con verdura. Beim Füllen der Teller zieht der Käse lange Fäden. Wir sitzen dicht gedrängt und schöpfen immer wieder, bis deutliche Signale aus dem Magen die Unvernunft besiegen.

Herausforderung Anreise: Naturparktourismus bringt Verkehr

Was die Umwelt besonders beeinträchtigt, ist die Anreise der Parkbesucher. Der private Autoverkehr macht zwischen 70 und 80 Prozent der Belastung aus. Das betrifft auch die Parklandschaften. «Der typische Gast ist etwa 50 Jahre alt und reist per Auto zu zweit oder mit Familie in den Naturpark, um (winter-)wandern zu gehen», zeigt eine ETH-Studie von 2018. Sie hat den Parc Jura vaudois, den Parc Ela, den Naturpark Gantrisch und den Landschaftspark Binntal untersucht.

Der Befund wird als Mahnung aufgefasst. Die Schweizer Pärke offerieren mit verschiedenen Partnern eine Gratis-ÖV-Anreise und -Rückreise. Bei einer Buchung ab drei Nächten erhalten die Reisenden das ÖV-Ticket ab dem Wohnort in der Schweiz geschenkt. Bis Ende September letzten Jahres nahmen schweizweit rund 800 Reisende das Geschenk entgegen, die Hälfte besuchte den Nationalpark und die Biosfera Val Müstair. Betrachtet man die gesamte Mobilität, dürften das eher wenig sein. Rund sechzig Hotelbetriebe machen mit. Im Parc Ela sind es zwei.

In der Nacht hat es geschüttet und abgekühlt. Ein Stück Blache auf dem Dach eines Schuppens flattert und knattert im Wind, Nebel schleicht um die Holzhütte, als ich zum Brunnen gehe, um das Gesicht zu waschen. Eveline und Lino sind hartgesotten, sie schliefen draussen. Lino erwachte mit nassen Füssen. Eveline empfand den Regen, der auf ihr Zeltdach fiel, «wie Musik». Zwei Jäger sitzen auf der Holzbank vor der Hütte und ertragen ruhig, dass ihnen Wasser auf die Pelerine tropft. Sarah bittet sie herein und bietet Kaffee an.

In Graubünden ist Jagdzeit, erfahren wir. «Für mehr als 5500 Jägerinnen und Jäger ist jetzt Ausnahmezustand. Es ist der wichtigste Anlass im Jahr», sagt Peter. Er erklärt uns, während er in der einen Hand das Gewehr und in der anderen die Tasse hält, dass Jäger wichtig seien, um den Wildbestand zu regulieren. Heute ist allerdings schon am Morgen Schluss: «Bei diesem Wetter hat die Jagd keinen Sinn.»

Wir hingegen gehen wieder an die Freiwilligenarbeit. «Hast du die Arbeit so erwartet?», fragt Livio, unser Gruppenleiter, nachdem wir zwei Stunden auf der Wiese trockene Kuhfladen verstreut haben. «Ich hatte schon eine Vorstellung», sage ich, schliesslich sei ich Bauernsohn. «Aber die Wirklichkeit ist immer anders.» Die Wirklichkeit ist: Die Kleider halten kaum mehr dicht, die Füsse in den Wanderschuhen sind aufgeweicht, die Finger klamm.

Nachdem wir Steine im Gelände eingesammelt haben, wärmt uns eine währschafte Gerstensuppe. Und der Apfelkuchen, den Sarah gebacken hat, vielmehr der feine Zimtgeruch, der über den süss-sauren Früchten schwebt, verführt uns zur kulinarischen Ausschweifung. Derweil schauen Livio und Peter, der Bauer, der heute zu uns gestossen ist, online auf die Wetterkarte. Sie beraten, ob wir am Nachmittag wieder in den Steilhang gehen. Die nächsten zwei Stunden sollte es schonen, sagen sie. Das bedeutet: nochmals raus.

Peter kämpft sich dynamisch durch Alpenrosen und fräst kleine Tannen um. Wir hetzen hinterher und räumen die Prügel und die Äste weg. Irgendwann hört man auf, sich über die Outdoorjacken aufzuregen, die nicht halten, was sie versprochen haben. Der Regen wird heftiger, schliesslich fällt auch Schnee.

Die Hänge weiter oben sind schon weiss geworden. «Stopp!», ruft Livio in den Wald hinein. «Wenn der Schnee hier ansetzt, könnte es gefährlich werden. Wir sollten ins Tal hinunter.» Nun heisst es pressieren. Zurück zur Hütte, packen, ein Stück Apfelkuchen essen und ab ins Auto. Auf dem Weg nach unten frage ich mich: Was hat das nun gebracht? Die Annäherung an den Park war kurz und brutal. Aber kam ich ihm wirklich näher? Das Modell regionaler Naturpark bleibt vage, und es wird wohl noch eine Weile dauern, bis die Idee vollendet wird.

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