In Zürich fordert eine politische Mehrheit die bildungspolitische Kehrtwende – und hat Erfolg.
Herr Ziegler, normalerweise stimmt die GLP in bildungspolitischen Fragen mit der Linken. Jetzt haben Sie im Kantonsparlament mit der FDP und der SVP eine Abkehr von der integrativen Schule gefordert. Sind Sie zum Bildungsbürgerlichen geworden?
Sicher nicht. Wir hatten hier schon immer eine differenzierte Meinung. Und als Sekundarlehrer muss ich einfach sagen: Das System funktioniert so nicht mehr.
Inwiefern nicht? Die Schweiz hat doch eines der besten Bildungssysteme der Welt, mit entsprechenden Resultaten bei der Pisa-Studie.
Ich stelle einfach fest, dass die Begeisterung und das Wohlwollen in der Lehrerschaft geschwunden sind. Die Vorbehalte gegenüber der Integration von verhaltensauffälligen Kindern sind gross. Wir müssen erkennen, dass man nicht alle Kinder in eine Regelklasse integrieren kann. Das sprengt einfach unser System. Wir haben dafür nicht genug Ressourcen.
Konkret: Von welchen Fällen sprechen wir?
Ein Mädchen, das ohne Vorwarnung die Kindergärtnerin beisst. Drei Mal. Oder ein 15-jähriger Jugendlicher, der die Klasse terrorisiert, jegliche Zusammenarbeit verweigert. Beide wären wohl besser aufgehoben in einer Kleinklasse, wo sie eine klare Bezugsperson haben, zu der sie eine Beziehung aufbauen können. Es bringt doch nichts, wenn man wie jetzt fünf, sechs oder sieben verschiedene Therapeutinnen und Heilpädagogen hat, die an diesen verhaltensauffälligen Kindern herumwerkeln.
Kantonsparlament stimmt für Rückkehr zu Kleinklassen
sgi. Am Montag hat der Zürcher Kantonsrat eine Motion verabschiedet, die sich für eine Abkehr vom integrativen Unterricht ausspricht. Mit 92 zu 76 Stimmen beauftragte das Parlament die Bildungsdirektion, Vorschläge zur flächendeckenden Wiedereinführung von Kleinklassen auszuarbeiten.
Eine in Bildungsfragen seltene Allianz aus SVP, FDP und GLP setzte sich gegen die Linksparteien und die Mitte durch. Aus denselben Kreisen stammt die vergangenes Jahr eingereichte Förderklasseninitiative, die ähnliche Ziele verfolgt.
Die wissenschaftliche Evidenz ist klar: Wer integrativ unterrichtet wird, lernt in der Regel mehr als in einer Kleinklasse. Das entgegnet Ihnen auch die Bildungsdirektorin Silvia Steiner. Sie wirft Ihnen vor, anekdotisch zu argumentieren, an den Fakten vorbei.
Ich sehe einfach, was an der Schule passiert. Wie die Stimmung unter den Lehrpersonen ist. Silvia Steiner hat schon recht: Es ist anekdotisch. Ja, natürlich! Wir Lehrpersonen sind es schliesslich, die die Integration tagtäglich in der Praxis umsetzen. Und da muss ich sagen: Wir haben die Probleme unterschätzt. Integration um jeden Preis – das nützt auch den betroffenen Schülerinnen und Schülern nicht. Wenn sie zum Beispiel immer stören, dann werden sie irgendwann selbst zum Fremdkörper in der Klasse.
Elisabeth Moser Opitz, Professorin für Erziehungswissenschaften in Zürich, sagte der NZZ unlängst: «Die Forschung zeigt klar: Kinder mit Lernschwächen und leichten geistigen Behinderungen lernen im integrativen Unterricht mehr als in der Kleinklasse.» Auch den anderen Kindern schade die Integration nicht, sofern der Anteil betroffener Schülern 15 bis 20 Prozent nicht übersteige.
Ich bin ja gar nicht gegen jede Art von Integration. Schauen Sie, ich mache wieder ein anekdotisches Beispiel: Nehmen Sie einen Schüler mit reduziertem Hörvermögen. Da muss der Lehrer stets ein Mikrofon tragen. Er muss die Hörverständnisübungen vor der Stunde aufs iPad des Schülers laden. Er muss die Lernziele aufschreiben, statt sie mündlich zu verkünden. Das geht problemlos, ich weiss das aus eigener Erfahrung. Ein solcher Junge ist eine Bereicherung für die Klasse.
Wo ist dann das Problem?
Das liegt bei den stark verhaltensauffälligen Kindern. Denen, die den Unterricht massiv stören. Dort sind wir zu weit gegangen. Man kann einfach nicht alle integrieren. Sonst überfordern wir auf Dauer die Lehrpersonen und die Schülerinnen.
Die Anzahl sonderpädagogischer Massnahmen im Kanton Zürich steigt seit Jahren an. Ist das ein Ausdruck dieser Überforderung? Beantragen die Schulen immer mehr Massnahmen, weil sie mit dem Unterrichtsalltag immer weniger zurechtkommen?
Sie haben eine Frage gestellt und gleich selbst eine mögliche Antwort gegeben. Wieder: Ich habe keine Studien gemacht, ich habe nur meine Erfahrung als Lehrer. Und die sagt mir: Wir müssen uns fragen, warum die Sondersettings immer mehr werden. Wir können nicht einfach blindlings immer mehr Ressourcen in das System hineinbuttern und hoffen, dass das alle Probleme lösen wird.
Nun ist es im Kanton Zürich jetzt schon so, dass jede Gemeinde selbst entscheiden kann, ob sie Kinder mit Förderbedarf integriert oder in Kleinklassen unterrichtet. Es gibt keinen Zwang zur Integration.
Auf dem Papier nicht. Faktisch ist das System so ausgestaltet, dass jede Schulgemeinde nur zwei Möglichkeiten hat: Entweder sie setzt ganz auf Integration, oder sie setzt auf separierte Klassen. Die finanziellen Anreize – und die bestimmt der Kanton – sind so ausgestaltet. Sie verhindern, dass vor allem kleinere Gemeinden einen moderaten Mittelweg suchen können, ohne finanziell an ihre Grenzen zu stossen.
Die Bildungsdirektorin Steiner kritisiert, dass Ihre Lösung – eine teilweise Rückkehr zu den Kleinklassen – am Ende teurer wäre als das gegenwärtige System.
Das wäre noch zu klären. Ich bin überzeugt davon, dass es beim integrativen Unterricht auch viele Doppelspurigkeiten gibt. Aber klar: Das Ganze ist sicher keine Sparübung. Es geht um eine pädagogische Frage.
Der Kanton schlägt als Alternative zu den Kleinklassen sogenannte Schulinseln vor. Was ist das überhaupt?
Ich kenne das aus meiner Schule. Es ist ein Ort für ein kurzfristiges Time-out, betreut von einer Lehrperson. Wenn zwei Kinder furchtbar miteinander streiten. Oder wenn jemand sich im Kochen derart danebenbenimmt und aus dem Unterricht gewiesen wird. Dann bekommen sie hier Betreuung, Hilfe bei Aufgaben, einer Bewerbung. Und sie können sich etwas beruhigen.
Das funktioniert?
Für manche schon, für alle nicht. Wenn das Verhaltensproblem ein dauerhaftes ist, wird es durch eine Pause nicht behoben. Die Unruhe kehrt sofort in die Klasse zurück. Ausserdem bindet eine solche Schulinsel auch viele Ressourcen, ohne dass sie für die schwierigen Schüler eine klare Bezugsperson schafft – genau das, was für sie das Wichtigste wäre.
Eine andere Idee, die etwa in Luzern zur Anwendung kommt, lautet: je mehr integrativ unterrichtete Kinder, desto kleiner die Klassengrösse.
Ein guter Ansatz. Genau solche Ideen müssen wir in Zürich auch prüfen, aber eben ohne Scheuklappen. Kleinklassen müssen wieder eine echte Option sein.
Was sagen Sie zur Kritik von links, dass Sie und Ihre bürgerlichen Partner eine populistisch motivierte Kampagne gegen die Integration führen würden?
Mir geht es um die Schule. Der integrative Unterricht ist an seiner Belastungsgrenze angekommen. Wenn wir ihn jetzt nicht reformieren, werden sich irgendwann jene Stimmen durchsetzen, die ihm ganz den Garaus machen wollen – und das wäre eine Tragödie.